Stille im Bauch

Unter Schmerzen presst Anne Weber* ihr Kind aus sich heraus. Als seine Schultern sich aus ihrem Unterleib drehen, hat sie kaum noch Kraft. Die Kreißsaal-Lampe scheint ihr direkt ins Gesicht, es riecht muffig, nach altem Ledersofa, Holz, Desinfektionsmittel.

Annes Mann Florian* durchtrennt die Nabelschnur, eine Hebamme nimmt das Kind, wiegt es.

Es ist der 8. März 2014, 7.05 Uhr im Kreißsaal der Universitätsmedizin Mannheim. In der 36. Schwangerschaftswoche hat Anne Weber ein Mädchen geboren. 47cm lang und 1740g leicht. Das Kind ist tot.

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Eine Ludwigshafener Vorstadtsiedlung, hier wohnen die Webers. Gepflegte Gärten, der Rasen ist kurz geschoren, eine Schule liegt gleich nebenan. Hier fahren die Autos langsam, parken schnurgerade vor dem Gehsteig.

Im Sommer 2013 ist Anne Weber in der vierten Woche schwanger. Das Baby ist innig gewünscht, das Ehepaar selig.

Der Ultraschall bestätigt: Dem Embryo geht es gut. Doch bei der Untersuchung in der 11. Schwangerschaftswoche stutzt die Gynäkologin einen Moment. „Da stimmt etwas nicht“, sagt sie.

Anne Weber, 32, bekommt Angst. Ein vertrautes Gefühl, ständig hat sie Angst, etwas falsch zu machen, Angst, nicht gut genug zu sein. Seit Jahren leidet sie unter Depressionen.

Ein paar Tage später wartet das Ehepaar in einer Klinik für Pränataldiagnostik auf den Arzt. Er misst im Ultraschall die Nackenfaltentransparenz, eine Flüssigkeitsansammlung im Nackenbereich des Babys. Die ist signifikant erhöht. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind an einer Trisomie, einem Gendefekt, leidet.

Es klingt, als sei ein Gummi gerissen, als die Nadel durch die Bauchdecke sticht

Die Webers entscheiden sich für eine Fruchtwasseruntersuchung. Anne Weber liest in Internetforen über Kinder mit Chromosomenabweichungen und darüber, wie sich ihr Leben mit einem behinderten Kind verändern würde. Immer neue Informationen, neue Hoffnungen auch. Sie sucht nach integrativen Kindergärten in Ludwigshafen. Sie tastet sich an den Gedanken heran, das Kinderzimmer statt mit Spielzeug mit medizinischen Geräten auszustatten.

17.Oktober 2013, ein Tablett mit Instrumenten liegt auf Anne Webers ausgestreckten Oberschenkeln, Florian hält ihre Hand.

Auf dem Monitor sehen sie, wie das Mädchen in ihrem Bauch strampelt. Anne hört, wie die Ärztin die Verpackung aufreißt, sieht die Spritze im Halbdunkel.

Einen Millimeter Durchmesser hat die Nadel. Anne Weber ist Goldschmiedin, ein Millimeter, das ist für sie nicht winzig. Tage vor der Untersuchung hat sie sich in der Werkstatt immer wieder den Ein-Millimeter-Bohrer angeschaut.

Panik steigt in ihr auf. Ein scharfer Schmerz im Unterleib, als die Ärztin die Nadel in ihren Bauch sticht, ein Geräusch, als sei ein Gummi gerissen. Anne Weber zuckt zusammen, schreit, reißt die Knie zum Bauch. Das Tablett fällt klirrend zu Boden. Oberärztin und Assistentin versuchen, ihre Beine wieder auf die Liege zu drücken, Florian spricht auf sie ein. Anne beruhigt sich, die Ärztin drückt die Nadel tiefer in den Bauch und entnimmt das Fruchtwasser.

Der erlösende Anruf

Drei Wochen wartet das Ehepaar auf das Ergebnis der Untersuchung. Anne Weber hat gerade zum ersten Mal gespürt, wie sich ihr Kind bewegt. Sie will es behalten, egal, was ist.

Am 8. November kommt der erlösende Anruf: Das Kind ist „genetisch unauffällig“. Bis Weihnachten genießt das Ehepaar die Schwangerschaft. Nächstes Jahr würden sie mit Baby feiern.

28. Schwangerschaftswoche, das neue Jahr ist noch ganz frisch. Die Feindiagnostik der Organe ist unauffällig. In der 30. Woche stellt die Gynäkologin fest, dass das Kind zu leicht ist. Sie überweist Weber an die Universitätsmedizin Mannheim. Dort suchen Spezialisten nach möglichen Ursachen für das Untergewicht, finden aber keine. Anne Weber bekommt Spritzen zur Lungenreifung des Kindes, damit es selbstständig atmen kann, falls ein früher Kaiserschnitt notwendig würde.

Eine Woche später folgen weitere Ultraschall- und Doppleruntersuchengen. Dabei misst der Arzt die Durchblutung der Gebärmutter und den Blutfluss zwischen Kind und Plazenta, der für eine ausreichende Versorgung des Kindes mit Nährstoffen wichtig ist. Es gibt keinen auffälligen Befund, auch keinen Hinweis auf Viren, Bakterien oder Parasiten.

Jedes Mal, wenn etwas Schlimmes ausgeschlossen wird, fällt es den Webers wie eine Last von den Schultern. „Wir hatten nie das Gefühl, das Leben unseres Mädchens stünde auf dem Spiel“, sagt Anne Weber später.

*Namen von der Redaktion geändert

  • 1. Teil: Stille im Bauch
  • 2. Teil: Das Baby ist zu klein
  • 3. Teil: „Ich konnte dich nicht allein lassen

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