Zu viel Therapie am Lebensende?



Übertherapie – Das Leben vieler Todkranker wird mit Maximalmedizin verlängert, obwohl sie keine Chance auf Besserung haben. Nun bahnt sich eine Wende an

In der Patientenverfügung legt der Patient fest, welche medizinischen Maßnahmen durchgeführt werden dürfen, falls er sich nicht mehr dazu äußern kann

Ein 82 Jahre alter Mann liegt in einem Pflegeheim, seit Jahren stark dement und bettlägerig. Er kann nicht mehr sprechen, sich nicht selbst fortbewegen, seinen Urin nicht halten, erkennt seine Familie nicht, leidet unter Verkrampfungen, Druckgeschwüren und Erstickungsanfällen. Er wurde von 2006 bis 2011 künstlich ernährt. Ob er das gewollt hätte, ist unklar. Er hat keine Patientenverfügung.

Der Mann ist ein Fall von vielen. In Deutschland ­­leben Zehntausende Sterbenskranke mithilfe einer Magensonde noch lange weiter. Manche werden auch mit künstlicher Beatmung dauerhaft am Leben gehalten. Doch darf man Leiden jahrelang verlängern, nur weil es medizinisch möglich ist?

Fragwürdige Behandlung am Ende des Lebens

Nein, entschied das Oberlandesgericht München Ende 2017. Der Hausarzt des Mannes beging laut Gericht ­einen Fehler, weil die fortgesetzte künstliche Ernährung keinem Behandlungsziel diente. Es gab langfristig keine Chance auf Besserung – und damit keine medizinische Begründung.

Der Arzt hätte sein Vorgehen daher zu­min­dest mit dem zuständigen Betreuer besprechen müssen. Dem als Erbe klagenden Sohn sprach das Gericht Schmerzensgeld als Ausgleich für die Leiden des Vaters zu. Damit haftet erstmals ein Arzt für eine sinnlose Therapie am Lebens­ende.

Wegweisendes Urteil?

Mit dem Urteil, das vom Bundesgerichtshof noch in den Details bestätigt werden muss, kommt eine entscheidende Wende. "Bisher dachten Ärzte, dass ihnen nichts passieren kann, wenn sie jemanden nicht sterben lassen. Das ist jetzt anders", sagt der Medizinrechtler Wolfgang Putz, der den Kläger vor Gericht vertreten hatte. Auch ein Mensch, der seinen Willen nicht mehr äußern kann und keine Patientenverfügung hat, habe einen Anspruch auf korrekte Behandlung.

Auch auf die vielen Fälle von Übertherapie am Lebensende in den Krankenhäusern dürfte die Entscheidung Einfluss haben. Experte Putz erwartet, dass Krankenkassen für unbegründete Behandlungen häufiger die Erstattung verweigern und möglicherweise auch Strafanzeige gegen die Ärzte stellen.

Übertherapie ist trauriger Alltag

Torturen durch Tests, OPs und Medikamente, die allenfalls den Todeszeitpunkt verzögern oder nur ein leidvolles Weiterleben in stark pflegebedürftigem Zustand ermöglichen, sind in vielen Kliniken Alltag. "Über Sinn und Unsinn einer Therapie wird bei Patienten auf der Intensivstation oft erst dann nachgedacht, wenn alle Maßnahmen ausgeschöpft worden sind und die Patienten mit Beatmung, und am besten auch noch mit Dialyse, in die nächste Codierungsstufe gerutscht sind."

Das sind die harten Worte eines Klinikarztes in einem Blog über seine Arbeit. Statt Patienten in Würde gehen zu lassen, fährt der Oberarzt das Arsenal der Intensivmedizin auf. "Das ist nicht überall so stark ausgeprägt, aber durchaus Realität", sagt Professor Uwe Janssens, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin.

Überbehandlung gab es auch schon früher. Mediziner wollen eben nicht so schnell aufgeben. Nun bietet die ärzt­liche Kunst aber immer mehr Möglichkeiten, und die Art der Honorierung steigert den wirtschaftlichen Druck.

Einfluss durch finanzielle Anreize

"Das Fallpauschalensystem verleitet zu besonders erlösträchtigen Therapien", sagt Janssens. Die Kliniken seien dazu gezwungen, auch bei der Versorgung Schwerstkranker stets Geld zu verdienen. Dennoch: "Die Ärzte müssen mit dem Patienten oder dessen Stellvertreter ein vernünftiges Therapieziel formulieren. Das passiert aber in vielen Fällen nicht", sagt Janssens.

Natürlich klammern sich auch von Verlustangst getriebene Angehörige an den letzten Strohhalm und fordern medizinisch sinnlose Therapien ein. Zum Teil auch deswegen, weil sie von Ärzten nicht umfassend aufgeklärt werden. "All ­diese Faktoren vermischen sich. Aber der wirtschaftliche Einfluss ist größer geworden", sagt der Mediziner und ­Soziologe Karl Wehkamp. So lautet das Ergebnis einer Studie, für die er mit ­einem Co-Autor Ärzte und Geschäftsführer von Kliniken befragte.

Die Ärzte waren mit wenigen Ausnahmen der Ansicht, dass durch die Profit­­orientierung erhebliche Risiken und ­Defizite für die Patienten entstehen. Besonders einträglich ist etwa eine längere Beatmung mit einer Kanüle im Hals.

Ärzte in Angst vor juristischen Konsequenzen

Die Zahl der dauerhaft beatmeten Patienten steigt seit Jahren. Damit erhöht sich das Risiko für weitere Komplikationen, und mit jedem weiteren Tag wird es unwahrscheinlicher, dass der Patient je wieder selbst atmet. Ein Teil der befragten Geschäftsführer gab außerdem zu, leitenden Ärzten immer noch die lang umstrittenen Boni zu zahlen, beispielsweise für das Erreichen bestimmter Beatmungsstunden. "Wir quälen Sterbenskranke mit Medizin, damit sich manche Leute die Taschen vollmachen", sagt der Palliativmediziner und bekannte Übertherapie-Kritiker Matthias Thöns dazu.

Mediziner setzen aber auch deswegen Maximalmedizin ein, weil sie befürchten, sich andernfalls schuldig zu machen und juristisch angegriffen zu werden. "Diese Denke gibt es noch", be­stätigt Thöns. Tatsächlich sehen die Grundsätze der Bundesärztekammer aber schon seit 2011 vor, dass in der Sterbephase keine lebenserhaltenden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollen.

Jeder Fall ist anders

Doch dies in der Realität umzusetzen kann schwierig sein. Jeder Fall ist anders, Leben und Tod sind komplexer als Schriftstücke. Manche Menschen, oft jüngere, wollen bis zum letzten Augenblick nicht aufgeben – auch wenn es eine Qual ist. Ein paar Wochen mehr, um sich zu verabschieden oder Dinge zu regeln, mögen mitunter wichtiger sein.

Die Familie streitet möglicherweise über das Vorgehen oder ist vor allem an der Rentenzahlung interessiert. Eine gute Patientenverfügung hilft, richtig zu entscheiden. Und trotzdem: Nicht immer sei eindeutig klar, ob ein Schwerkranker noch "halbwegs gesund" werden könne, meint Wehkamp. "Ob es sich wirklich um das Lebensende handelt, weiß man erst hinterher."

Studie: Wenig Palliativtherapie für Todkranke

Doch oft weiß man es auch schon früher, bei Krebs im Endstadium beispiels­­weise. Gerade dann werden noch viele extrem teure und quälende Therapien ­gemacht, wie eine Studie in Plos One belegt. Die Autoren analysierten, wie 532 verstorbene Patienten des Münchner Uniklinikums in ihren letzten Wochen behandelt wurden.

Die Zahlen zeigen, wie stark die Medizin Todkranke in ihrer Maschinerie hält: 38 Prozent erhielten im letzten Lebensmonat Chemotherapie, fast 8 Prozent in der letzten Woche. Bei mehr als 60 Prozent wurden in der letzten Woche Computertomografien gemacht, 31 Prozent operierte man, 40 Prozent bekamen Bluttransfusionen, 17 Pro­­­zent Dialyse, und 11 Prozent wurden wiederbelebt. Aber nur 2 Prozent bekamen drei Wochen Palliativtherapie, die die Zeit vor dem Tod mit Linderung von Schmerz und menschlicher Wärme leichter macht. Experten fordern schon lange: Es müssten 100 Prozent sein.

Bessere Lebensqualität wäre möglich

Palliativtherapie kann bei unheilbar Kranken das Leben sogar verlängern, wie eine US-Untersuchung belegt. Ihr zufolge hatten Patienten, die statt einer belastenden Therapie eine Palliativbehandlung bekamen, eine bessere Lebensqualität, weniger depressive Symptome und lebten fast drei Monate länger.

Immerhin werden der Fehlentwicklung inzwischen mehr Grenzen gesetzt. Neben der ­Signalwirkung des Magensonden-Urteils gibt es mehrere andere Ansätze. Für die Diskussion komplexer Fälle auf Intensivstationen mit schwierigen Therapieentscheidungen sollen sich künftig alle beteiligten Ärzte, das Pflegepersonal und die Angehörigen zusammensetzen und gemeinsam zu einer Lösung kommen. Dafür soll eine neue Fallpauschale sorgen, die mehrere medizinische Fachgesellschaften beantragen – bisher gibt es kein Honorar.

"Solche Gespräche sind aufwendig, dauern in der Regel eine Stunde oder mehr und brauchen eine gute Vorbereitung. Bisher geht das im Grund- rauschen der alltäglichen Arbeit unter", sagt Janssens.

Hilfe durch Beratung

Schon jetzt können sich Angehörige von Experten des neuen Projekts "Zweitmeinung Intensiv" beraten lassen, wenn sie am Sinn einer Intensivtherapie zweifeln oder glauben, dass Patientenwünsche ignoriert werden. Das von Matthias Thöns gegründete Team aus Ärzten, Intensivfachpflegern und Juristen will "den Wahnsinn der Intensivmedizin stoppen". Wenn sie Fehler vermuten, analysieren sie die Patientenakte und weisen ihre Kollegen darauf hin. Mehrere Kassen erstatten die Kosten für diesen Service.

Die Zahl der Hospize und Angebote zur Palliativversorgung steigt. Auch die Voraussetzungen für gute medizinische Entscheidungen am Lebensende werden verbessert. Das 2017 geänderte Hospiz- und Palliativgesetz sieht etwa vor, dass Pflegeheime ihren Bewohnern eine intensive Beratung mit eigens dafür qualifizierten Mitarbeitern ermöglichen. Dieser Prozess soll mehr als eine Patientenverfügung dazu beitragen, dass Heimbewohner gemäß ihren Vorstellungen behandelt werden, und Zweifel aus dem Weg räumen.

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