Hereditäres Angioödem: Alles schwillt an



Die Schwellungen können überall auftreten: An der Hand, am Fuß, aber auch am Kehlkopf. Darum ist die seltene Erkrankung für Patienten mitunter gefährlich. Doch Marius E. lässt sich von der Diagnose nicht unterkriegen

Anfangs konnte Marius die Diagnose nur schwer akzeptieren. Mittlerweile setzt er sich sogar als HAE-Botschafter für andere Patienten ein

Ein kalter Klinikraum, in dem Ärzte seinen Bauch untersuchen. Stimmengewirr. Geräte, die neben ihm auf der Intensivstation piepsen. Von dem Tag, als HAE sein Leben umkrempelte, sind Marius E. (23) nur noch Erinnerungsfetzen geblieben. "Dazwischen ist alles dunkel", sagt er. Dass er an einer seltenen Krankheit mit dem Namen hereditäres Angio­ödem, kurz HAE, leidet, weiß Marius E. schon, solange er denken kann. Sie äußerte sich zunächst relativ harmlos. Mal schwoll eine Hand an, mal der Fuß. "Wir haben das gekühlt", erzählt der junge Mann aus Bonn. Die Notfallmittel lagen zwar immer bereit, gebraucht aber hat er sie nie.

Bis zu jenem Tag vor acht Jahren. In der Schule überfallen Marius E. heftige Bauchschmerzen. Vielleicht ein Infekt, denkt er und fährt nach Hause. Er übergibt sich, immer wieder. Das Stechen, die Krämpfe werden unerträglich. Als seine Mutter heimkommt, geht es dem Sohn bereits so schlecht, dass sie mit ihm direkt in die Klinik fährt. Die Ärzte vermuten einen allergischen Schock, verabreichen entsprechende Medikamente. Nichts schlägt an. Kurz vor Mitternacht fragt ein Arzt nach Vorerkrankungen. Schnell wird klar: Marius hat seine erste heftige HAE-Attacke. 

C1-Inhibitor: Mangelhaftes Enzym sorgt für Schwellungen

Ursache der Erkrankung: ein Fehler in einem Gen, das für die Produktion eines bestimmten Enzyms zuständig ist, genannt C1-Inhibitor. Dieses spielt eine wichtige Rolle in einem Teil des Abwehrsystems, der zum Beispiel bei Verletzungen anspringt. In der Folge werden die Wände der Blutgefäße durchlässiger, umgebendes Gewebe schwillt an. "Das Enzym übernimmt die Funk­tion einer Bremse", erklärt Professor Marcus Maurer, HAE-Experte am Allergie-Centrum der Berliner Charité. Es verhindert, dass die Schwellung außer Kontrolle gerät.

Bei HAE-Patienten ist diese Bremse defekt, das Enzym in zu geringer Menge vorhanden oder in seiner Funktion gestört. Deshalb können starke Schwellungen auftreten, teils ohne erkennbaren Auslöser. Zwar erhöhen Verletzungen oder körperliche Belastungen das Risiko. Doch auch Stress oder einfach nur ein Wetterumschwung kann eine Attacke auslösen. "Viele Betroffene leben in ständiger Angst davor", weiß Maurer. Gefürchtet sind vor allem Attacken im Bauchraum oder im Bereich des Kehlkopfs. Als es noch keine Behandlung gab, starben bis zu einem Viertel der Patienten. Sie erstickten.

"Heute braucht kein HAE-Patient mehr zu sterben", versichert Mediziner Maurer. Zur Verfügung stehen verschiedene Arzneien, die akute Anfälle schnell dämpfen oder vorbeugend eingesetzt werden. Zudem wissen viele Betroffene früh von ihrer Erkrankung. Wer an HAE leidet, gibt den Gendefekt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an seine Kinder weiter. Bei bis zu einem Viertel der Patienten tritt die Krankheit aber ohne familiäre Häufung auf. Dann vergehen bis zur Diagnose oft Jahre.

Kaum bekannte Erkrankung, langwierige Diagnosefindung

HAE gehört zu den seltenen Erkrankungen – und denen ist eines gemeinsam: "Sogar viele Ärzte haben kaum je etwas von dem Leiden gehört", sagt Dr. Christine Mundlos von "Achse", der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen. Erste Anlaufstelle sind meist Kinder- und Hausärzte. Doch diese haben in ihren Praxen fast nur mit häufigen Diagnosen zu tun. Bei Achse engagiert man sich dafür, dass sie öfter aufmerksam werden, wenn Symptome nicht erklärbar sind oder scheinbar nicht zusammenpassen – und die Patienten an geeignete Experten überweisen. "Der Weg zur Diagnose muss kürzer werden", sagt Mundlos. Bei HAE dauert er laut Experte Maurer im Schnitt noch immer sieben Jahre.

Marius E. blieb eine Ärzte-Odyssee erspart. Früh stand fest, dass er die Erkrankung vom Vater geerbt hat. Die Eltern trennten sich aber vor seiner Geburt. Was es bedeutet, mit HAE zu leben, wusste der Sohn daher nicht. Auch nicht, dass die hormonelle Umstellung in der Pubertät die Beschwerden oft verstärkt. Als der junge Mann nach seiner ersten heftigen Attacke aus der Klinik kommt, erzählt er niemandem, was mit ihm los ist. "Für mich sollte alles weitergehen wie vorher."

Die Suche nach passenden Ärzten ist für Patienten schwierig

Gleich nach der Entlassung aus der Klinik schwingt er sich aufs Rennrad, um zu trainieren. Einige Pokale stehen damals schon im Schrank. Vielleicht Profi werden? Noch kann Marius E. den Traum nicht aufgeben. Doch von jetzt an meldet sich HAE regelmäßig. Kündigt sich ein Anfall an, muss er Medikamente spritzen. Oft schiebt er es vor sich her, bis es nicht mehr anders geht. "Ich hab mich sehr schwergetan, meine Krankheit zu akzeptieren." Hinzu kommt ein Problem, das viele Patienten mit seltenen Erkrankungen trifft: Einen Experten zu finden ist nicht einfach.

Auch Marius E. fühlt sich von seinem damaligen Arzt nicht gut betreut. Während der Abiturzeit erhält er Mittel, die eigentlich nur für akute Attacken bestimmt sind. "Die haben mich echt umgehauen." Ständig ist er müde, total erschlagen. Sein Arzt empfiehlt ihm Androgene. Diese verändern den Spiegel der Sexualhormone und wurden früher oft bei HAE verabreicht. "Wegen der Nebenwirkungen setzt man sie heute nur noch in Einzelfällen ein", so Experte Maurer. Marius E. weigert sich, die Mittel zu nehmen. Gleichzeitig will er aber Rettungsschwimmer werden, braucht dafür ein medizinisches Gutachten. Der Arzt setzt ihn unter Druck.

Die Erkrankung akzeptieren und offen damit umgehen

In seiner Verzweiflung erinnert sich Marius E. an den Flyer der HAE-Selbsthilfe, der seit einem Jahr in seiner Schublade liegt. "Ich dachte nicht, dass so was für mich infrage kommt." Jetzt sucht er Kontakt, telefoniert noch am selben Abend eine Stunde lang mit der Vorsitzenden. Die ersten zehn Minuten weint er. Endlich ist da jemand, der weiß, was er durchmacht. Schon eine Woche später fährt er zu einem Treffen von HAE-Patienten in Madrid. Er erkennt, dass es nur einen Weg für ihn gibt, mit der Krankheit klarzukommen: sie annehmen und offen darüber sprechen. "Heute weiß jeder meiner Bekannten, was ich habe."

Er wechselt den Arzt, stellt die Therapie um, arbeitet während der Ausbildung zum medizinisch-­­technischen Laborassistenten wie geplant als Rettungsschwimmer. Zudem hat Marius E. gelernt, seinen Körper zu beobachten. Ein metallischer Geschmack im Mund etwa heißt: HAE ist im Anmarsch. Für akute Attacken hat er immer ein Notfallmedikament parat. Zudem spritzt er sich alle drei Tage das Enzym, von dem sein Körper nicht genug herstellt.

Dennoch gibt es Rückschläge. Vor ein paar Monaten führte Prüfungsstress zu einem heftigen Anfall. Doch der junge Mann lässt sich nicht entmutigen. Als Botschafter der HAE-Vereinigung will er anderen zeigen, dass man trotz Krankheit durchstarten kann. Er lebt mit zwei Studentinnen in einer WG. Gerade ist er von einer Rundreise durch Kroatien zurückgekehrt. Demnächst will er eine Tour mit der Transsibirischen Eisenbahn machen. Noch Medizin studieren? Wer weiß. Von HAE will sich Marius E. jedenfalls nicht aufhalten lassen.

Diese Warnzeichen lassen an ein hereditäres Angioödem denken

Das hereditäre Angioödem (HAE) ist eine seltene Erkrankung. Schätzungsweise leidet einer von 10 000 bis 50 000 Menschen daran. Experten gehen allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus.

Patienten, die den Gendefekt in sich tragen, werden von Attacken heimgesucht, bei denen Körperteile oder Organe anschwellen – oft Hände, Füße und Schleimhäute. Gefährlich wird es bei Schwellungen im Verdauungstrakt, in Mundhöhle oder Hals. Besonders gefürchtet sind Attacken im Bereich des Kehlkopfs. Ohne Notfallmedikamente besteht Erstickungsgefahr.

Fehldiagnosen sind häufig. Oft denken Ärzte zuerst an eine Allergie als Ursache oder an ein Reizdarm-Syndrom. Experte Marcus Maurer rät, Patienten mit Schwellungsattacken unklarer Ursache an ein HAE-Zentrum zu überweisen.

Thema des dritten Teils der Serie über seltene Erkrankungen: die Stoffwechselstörung Morbus Fabry.

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