Für die Kinder beginnt nach der Höhlen-Rettung der psychologische Überlebenskampf
Das Schicksal Jugend-Fußballmannschaft in Thailand hat die Welt bewegt. Nach der Rettung aus der Höhle ist aber noch nicht alles vorbei. Die Erfahrung dürfte für viele der Kinder traumatisch gewesen sein. Ihnen steht eine schwierige Rückkehr in den Alltag bevor.
Glücklicherweise konnten vor wenigen Tagen alle zwölf Jugendlichen und der Trainer einer thailändischen Fußballmannschaft in einer überaus gefährlichen Rettungsaktion aus der von Monsunwasser überfluteten Tham-Luang-Höhle unweit der Grenze zu Myanmar befreit werden. Die Welt sprach von einem unglaublichen Wunder.
Nach dem weltweiten Aufatmen ist schon kaum noch was über die Rettung in den Medien zu lesen. Den meisten Menschen, die noch nie ein traumatisches Ereignis überlebt haben, ist jedoch nicht bewusst, dass für die Geretteten der psychologische Überlebenskampf lange noch nicht gewonnen ist.
Dabei ist mit „traumatisch“ die wissenschaftliche Definition gemeint, nicht etwa die inflationäre Nutzung des Begriffes im allgemeinen Sprachgebrauch. Heute wird das Wort schon leichtfertig genutzt, wenn eine Fußballmannschaft in der Vorrunde gegen einen vermeintlich schwachen Gegner ausscheidet oder die Anreise zur Urlaubsdestination sich staubedingt um einige Stunden verzögert. Nein, gemeint sind Lebenssituationen, sogenannte Life-Events, in denen der betroffene Mensch reale Angst zu sterben verspürt, so wie es den in der Höhle Gefangenen über 360 Stunden lang ergangen ist. Diesen Menschen bleibt nur die Option, sich mit dem bevorstehenden Tod zu arrangieren oder das Bewusstsein zum Selbstschutz in den psychologischen Offlinemodus zu schalten. Diese tragische Wahl kommt einer Verlust-Verlust-Situation gleich weil beide Varianten schwerwiegende psychologische Folgen nach sich ziehen können.
Alina Wilms studierte unter anderem in London, Oxford und Jena Psychologie. 2002 engagiert sie sich die Traumaexpertin für die Überlebenden des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium als gesamtkoordinierende Nachsorgeleiterin als jüngste der ca. 100 bundesweit rekrutierten Therapeuten.
Zu den Variablen, die ausschlaggebend dafür sind, ob ein Mensch in Folge einer traumatischen Lebenssituation psychische Belastungsstörungen erleiden wird, gehört die Dauer des traumatischen Ereignisses, die bei manchen Ereignissen nur einen Wimpernschlag andauert. Die Höhlenkinder jedoch mussten über 360 Stunden in Todesangst ausharren. Selbst als endlich die Retter eintrafen, mussten die entkräfteten Kinder damit rechnen, bei der spektakulären Rettungsaktion zu sterben.
Viele schlimme Erinnerungen
Während dieser langen Zeit, in der die Psyche ohnehin hypersensibel und überaus anfällig ist, kerbt sich die Erinnerung all dessen, was das traumatische Erleben begleitet, besonders tief in das kindliche Gedächtnis ein. Dunkelheit, Kälte, sauerstoffarme Luft, das Geräusch eintropfenden oder einströmenden Wassers und dessen abgestandenem Geruch, zurückhallendes Wimmern, Stille, der Gestank von Fäkalien und der Angstschweiß des angekuschelten Mannschaftskameraden sind scheinbar unauslöschbar mit der traumatischen Erinnerung verknüpft.
All diese Wahrnehmungen können nach dem körperlichen Überleben die traumatische Erinnerung bummerangartig zurückholen. Für die Betroffenen fühlt es sich dann so an, als wären sie zurückkatapultiert in die bedrohliche Situation, begleitet von damit verbundenen Erregungssymptomen wie Zittern, Schwitzen, erhöhtem Herzschlag. So kann es gut sein, dass Regen, Wasser im Schwimmbad, aus dem tropfenden Wasserhahn oder im Brunnen zu einem Auslöser, fachsprachlich Trigger, wird. Im Gehirn wird ein falscher Alarm ausgelöst und das betroffene Kind, in sicherer Geborgenheit, glaubt erneut, sterben zu müssen.
Der Körpergeruch oder der Zuruf eines Mitspielers kann ebenso zur Erinnerungsrutsche werden wie flaches Atmen an einem schwülen Tag oder während eines anstrengenden Fußballspiels. Albträume und Schlafstörungen sind zu erwarten, da die Dunkelheit an das Schwarz der Höhle erinnert. Manche Kinder werden Angstsymptome erleben, immer dann, wenn sie sich in abgeschlossenen Räumen befinden.
Symptome treten erst zeitverzögert auf
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Symptome oft zeitverzögert auftreten, das betroffene Kind zunächst stabil wirkt und erst viel später Symptome aufweist, die die Angehörigen dann nicht entsprechend zuordnen können, weshalb deren psychoedukative Aufklärung unbedingt von Nöten ist.
Da dieses Wiedererleben besonders unangenehm ist, vermeiden Betroffene oft die Trigger, was die Lebensqualität erheblich einschränkt und in diesem Fall unmöglich sein dürfte weil Wasser und Dunkelheit unvermeidbare Lebensrealitäten sind. In manchen Fällen nehmen sich Überlebende paradoxerweise selbst per Suizid das gerettete Leben weil sie es nicht ertragen können, mit dem ständigen Trauma im Kopf weiter zu leben.
Wie groß die Gefahr für die dauerhafte Entwicklung traumareaktiver psychischer Schädigungen ist, hängt auch davon ab, wie vulnerabel oder resilient, das bedeutet anfällig oder stählern, die Persönlichkeit des jeweiligen Kindes ist, ob das Kind bereits zuvor traumatische Lebensereignisse bewältigen musste und ob zuverlässige, einfühlsame Bindungspersonen zur Verfügung stehen, um das Kind auch auf psychologischer Ebene zurück ins Leben zu begleiten.
Wie den Betroffenen geholfen werden kann
In dieser ersten Phase wäre den Betroffenen am meisten geholfen, wenn sie selbst Kontrolle über Triggersituationen bekämen, um sich zu beweisen, dass es nur fehlalarmierte Erinnerungen und keine erneuten Realbedrohungen sind. Ganz konkret sollten sie die Möglichkeit haben, geschlossene Räume jederzeit verlassen zu dürfen, in der nächtlichen Dunkelheit ein Licht am Bett haben, welches sie jederzeit entzünden können.
In einer zweiten Phase sollten die angstbesetzten Trigger wieder an positive Erfahrungen gekoppelt und damit neutralisiert werden. Dazu gehören schöne und lebensbejahende Erlebnisse im Wasser, in der Dunkelheit und in begrenzten sauerstoffarmen Räumen.
Abschließend wäre, nach einer gelungenen psychischen und physischen Stabilisierung, eine Rückkehr an den Ort des Überlebens heilsam, am besten als komplettes Team und in dem Bewusstsein, dass sie keine Opfer, sondern Überlebende sind. Sportpsychologisch betrachtet, könnte die gemeinsame traumatische Situation positiv umgedeutet werden, denn sie hat das Potential, die thailändische Jugendmannschaft enger zusammen zu schweißen als eine gewonnene Weltmeisterschaft eine Nationalequipe! Hierzu wäre auch eine Umbenennung der Moo Pah, ins Deutsche übersetzt „Wildschweine“, wie sich die Mannschaft bisher nannte, in „Team Survival“ denkbar.
Der bedauerliche Tod eines Helfers könnte zwar zusätzlich zu den psychoreaktiven Symptomen auch noch eine Schuldgefühlsproblematik auslösen. Andererseits haben die Helfer nicht nur rein physisch beim Überleben geholfen, sondern auch psychologisch. Im Gegensatz zu Schulamokläufen oder sexuellem Missbrauch, bei denen die Betroffenen zusätzlich verarbeiten müssen, dass ein anderer Mensch ihnen vorsätzlich Leid zugefügt hat, handelt es sich bei dem Erleben der Höhlenüberlebenden um eine sogenannte Typ 1 Traumatisierung. Auslöser war der von Mutter Natur geschickte Monsunregen und wir Menschen können eher akzeptieren, dass wir der Macht der Natur unterlegen sind als von Menschenhand ausgelöstes Leid zu ertragen. Wir Menschen haben die Fähigkeit zu schätzen, dass fremde Menschen ihr Leben riskieren, und können nicht verstehen, wenn ein Mitschüler uns abknallen will oder ein Schutzbefohlener seine Gelüste an uns befriedigt.
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