Erziehung, Gene, Hormone: Was junge Männer so aggressiv macht
Gewalttätige Aggression geht zum weitaus größten Teil von Männern aus. Die üblichen Verdächtigen, wenn es um eine Erklärung für die männliche Dominanz bei diesen Straftaten gibt, sind die Gene, kulturelle Prägung und das „Aggressions-Hormon“ Testosteron. Doch die Lage ist gar nicht so eindeutig, wie das auf den ersten Blick scheint. FOCUS Online sprach mit einer Wissenschaftlerin, die sich mit dem Phänomen Aggression beschäftigt.
Männer sind das gewälttätigere Geschlecht, das steht fest. Kriminalstatistiken zeigen eindeutig:
- Männer üben 80 Prozent aller Gewalttaten aus,
- jeden zweiten bis dritten Tag in Deutschland stirbt eine Frau durch die Hand des Partners oder Expartners, wie das BKA in einer aktuellen Statistik vor Kurzem bekannt gab,
- insgesamt nimmt häusliche Gewalt zu, 82 Prozent der Opfer sind Frauen, die vom Mann bedroht, misshandelt oder gestalkt werden.
- 95 Prozent der Gefängnisinsassen sind männlich, sowie der überwiegende Anteil bei Serienmördern
Auch bei Gewalttaten durch Hooligans, Amoklauf und Attentat sind die Täter mit großem Abstand männlichen Geschlechts. Männer, dabei vor allem junge Männer unter stehen unter Generalverdacht: „Salopp gesagt ist das Gefährlichste, was die menschliche Evolution hervorgebracht hat, junge Männerhorden. Solche testosterongesteuerten Gruppen können immer Böses anrichten“, wetterte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach einer Gruppenvergewaltigung in Freiburg.
Testosteron kann aggressiv machen…
Ist es tatsächlich das männliche Sexualhormon, das Männer so aggressiv macht? Dafür spricht, dass vor allem junge Männer oft auffallend aggressiv sind, die bekanntlich einen hohen Testosteronspiegel aufweisen. „Metaanalysen zeigen jedoch nur einen eher schwachen Zusammenhang zwischen Testosteron und Aggressivität“, stellt Ute Habel klar, leitende Psychologin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik Aachen. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich seit Jahren mit den neurobiologischen Hintergründen von Emotionen, dabei auch Aggression. In einer aktuellen Studie untersuchte sie mit ihrem Team den Einfluss von Testosteron auf das Verhalten von Männern.
Die Probanden erhielten ein Testosterongel zum Auftragen auf die Haut. Dabei zeigte sich, dass beim Spiel gegen einen vermeintlichen Gegner die Probanden sich unter dem Einfluss des zusätzlichen (exogenen) Testosterons mehr provozieren ließen und aggressiver reagierten. „Das ist ein Hinweis, allerdings kam es gleichzeitig zu einer Interaktion mit genetischen Faktoren, die mit Aggression in Verbindung stehen, was zeigt, dass das Ganze kompliziert ist“, berichtet die Wissenschaftlerin. Aggression kann also je nach biologisch-genetischer Ausstattung durch Testosteron auch eher abgebremst werden.
… aber den Mann auch zu fairem Verhalten anregen
Testosteron kann, muss aber nicht aggressiv machen, im Gegenteil. Das Männerhormon hat die Fähigkeit, viele andere Wirkungen entfalten, etwa „Angst zu reduzieren, den Wettbewerb zu fördern, strategisches Verhalten und Belohnung auszulösen, wie verschiedene Studien zeigen“, führt Ute Habel aus. Auch in Zusammenhang mit Fairness scheint es eine Rolle zu spielen.
Testosteron einzig auf seine Funktion als Sexualhormon, das Aggressivität schüren kann, zu reduzieren, trifft also nicht zu. Es macht den Mann zum Mann, aber nicht zu einem unberechenbaren „Aggressions-Vulkan“.
Aggressions-Gene beeinflussen Verhalten
Eine wesentlich wichtigere Rolle bei der Entstehung von Aggression spielen genetische Einflussfaktoren. Es haben mehrere Gene Einfluss auf Aggression. Bekannt wurde besonders eine bestimmte Genvariante, eine Variante des Monoaminooxidase-A (MAOA)-Gens, die wiederholt mit Aggression in Verbindung gebracht wurde. MAOA ist für die Verstoffwechslung von Serotonin und Dopamin zuständig. Bei einem bestimmten MAOA Allel ist die Aktivität des Enzyms geringer, es steht also mehr Serotonin und Dopamin zur Verfügung. Beide Transmitter sind ebenfalls bei Aggression involviert.
Rund ein Drittel (bis 40 Prozent) aller Männer verfügen über diesen Genotyp, der wie alle Gene erblich ist.
Männer mit diesem Genotyp sind deshalb aber normalerweise nicht aggressiver. „Studien haben gezeigt, dass es zur Aggressivität vor allem dann kommt, wenn gleichzeitig schlimme Umwelterfahrungen wie Gewalt und Trauma vor allem in der frühen Kindheit vorliegen“, stellt Ute Habel klar. Diese frühkindlichen Gewalterfahrungen im Kombination mit dem Risikogenotyp seien ein wichtiger Prädiktor bei Männern für spätere Aggressivität.
Doch auch wie Testosteron nicht auf jeden Fall aggressiver macht, wirkt sich auch der MAOA-Genotyp nicht einseitig negativ aus. Die Wissenschaftlerin hat an einer weiteren Studie mitgearbeitet, wobei unter dem Einfluss von Testosteron das Risikoverhalten getestet wurde. „Es zeigte sich, dass die Probanden, die den Genotypen aufwiesen, strategischer vorgingen und etwas erfolgreicher beim Durchführen einer riskanten Aufgabe waren“, fasst sie zusammen.
Traumatisierung, Frustration und Provokation fördern Aggression
Liegt die MAOA-Variante vor, können jedoch zusätzliche äußere Faktoren Aggressivität fördern. Das sind, wie schon erwähnt, etwa die Gewalterfahrungen in der Kindheit. Bei einer Untersuchung von 80 Gewaltstraftätern konnte die Wissenschaftlerin beispielsweise eruieren, dass die meisten von ihnen traumatische Kindheitserfahrungen hatten.
Weitere Faktoren, die Aggression auslösen können liegen oft in der Situation:
- Das Gefühl des eigenen Versagens, der Unfähigkeit und Frustration
- Provokationen
- Konkurrenz
- Ausgrenzung
- Stress
- Positive Erfahrungen mit Aggression – also wer erlebt hat, dass sein eigenes, aggressives Verhalten zum Erfolg führte, wird in Zukunft eher auf diese Taktik setzen.
Problemfall Jungen aus Machokulturen
Neben den äußeren Einflüssen sind die vielleicht prägendsten, eine Kultur mit männlicher Dominanz und die entsprechende Erziehung. In diesen Ländern ist der Machismus ausgeprägt, die Frau wird diskriminiert. Die UN-Untersuchung „Understanding Masculinities“ im mittleren Osten und Nordafrika hat beispielsweise gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Männer schon mal auf der Straße eine Frau belästigt haben, in Deutschland ist das „nur“ jeder fünfte. Weitere Ergebnisse der UN-Studie: Männer bestimmen zu 90 Prozent über die persönliche Freiheiten ihrer Frauen.
Für Jungen, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, kann Dominanz und Aggression gegenüber Frauen ziemlich normal sein, weil sie akzeptiert ist. Trotzdem bedeutet das nicht, dass alle Männer aus Macho-Kulturen aggressiv sind, es gibt eine Menge Gegenbeispiele.
Aggressive Männer sind auch Produkt der Evolution
Wenn es um ein Erklärungsmodell männlicher Aggression geht, wird gerne die Entwicklung der Menschheit herangezogen – mit Männern als angriffslustigen Jägern, Frauen als friedlichen Sammler- und Feuerhüterinnen. „Immer wenn wir Geschlechtsunterschiede feststellen, die wir uns nicht richtig erklären können, greifen wir gerne auf die Evolution zurück“, sagt die Forscherin. Doch wir haben nun mal zwei unterschiedliche Geschlechter, die mit unterschiedlicher Kraft und Größe ausgestattet sind, zu einem bestimmten Zweck – und das lässt sich auch negativ einsetzen mit Gewalt des Stärkeren gegen den (die) Schwächere.
Frauen werden aggressiver gegen Männer
Es gibt also viele mögliche Gründe dafür, dass Männer wesentlich öfter wegen gewalttätiger Aggression auffallen und straffällig werden, meist gegen Frauen. Doch sind wirklich immer Frauen die Opfer von Aggression? Statistiken zeigen noch eine weitere Entwicklung. Die Anzahl männlicher Opfer in der Partnerschaftsgewalt steigt seit 2013 kontinuierlich an, wie die kriminalistische Auswertung für das Jahr 2017 verdeutlicht.
Dabei zeigen sich Frauen, vor allem jüngere Frauen, immer häufiger aggressiv, es kommt also zu einer Emanzipation der Aggression. Ursache ist unter anderem die Veränderung der Geschlechterrollen.
Allerdings handelt es sich dabei immer noch um einen Bruchteil im Vergleich der von Männern ausgeführten Gewalttaten. In der Regel drückt sich weibliche Aggression nämlich anders aus: Frauen lästern, nörgeln, kontrollieren, schreien.
Frau neigen aber grundsätzlich eher dazu, eine Depression, Borderlinestörung zu entwickeln oder Selbstaggression zu zeigen, die sich etwa in Selbstverletzungen oder Suizidversuchen ausdrückt.
Fazit: Bei der Entstehung von Aggression kommen viele komplexe Faktoren zusammen. Dabei hat die männliche Aggression, wie jedes Verhalten, eine biologische Seite, die unter anderem von Botenstoffen im Gehirn, Hormonen und Genen geleitet wird. Ute Habel: „Das sind genetische Einflüsse, zu viel Testosteron oder auch eine Hirnschädigung, etwa in dem Areal, das für Kontrolle wichtig ist.“ Dabei können sich auch kleinste angeborene Änderungen ein Leben lang auswirken.
Die andere wichtige Komponente ist die Situation, Beispiel Provokation. Dann kann auch ein sonst kaum aggressiver Mensch mit Gewalt reagieren. „Man spricht in diesem Fall von reaktiver Aggression im Unterschied zu den instrumentellen Aggressionsformen, die einen Selbstzweck haben – beispielsweise eingesetzt werden, um etwas zu bekommen oder ein Ziel zu erreichen“, erklärt die Psychologin genauer.
Aggressions-Forschung steht erst am Anfang
Zusätzlich kommen Erfahrungen, aber auch Persönlichkeitsmerkmale zum Tragen, die wiederum von der Biologie beeinflusst sind – womit sich der Kreis wieder schließt. „Das alles spielt bei jedem Menschen unterschiedlich zusammen, die Faktoren sind verschieden gewichtet“, sagt die Forscherin. Dieser Facettenreichtum macht es auch so schwierig, Aggression und ihre Entstehung einzuordnen. Wir brauchen hier noch viel Forschung, um ein so komplexes Phänomen zu verstehen.
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