Ignoranz des Westens: Was Deutschland vom Pandemie-Bekämpfer Asien lernen kann

Immer wieder ist die Rede davon, dass Deutschland die Corona-Krise gut meistert, insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern. Das stimmt vielleicht, wenn man den Blick nur auf Europa richtet. Wer aber nach Asien schaut, wird schnell eines Besseren belehrt.

Dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern bisher verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen ist, davon sind viele überzeugt. So titelten nicht nur die deutschen Medien nach der ersten Welle der Corona-Pandemie „Warum Deutschland die Krise besser bewältigt“ oder „Das sind die Gründe, warum Deutschland derzeit so viel besser dasteht“. Auch in der internationalen Berichterstattung fand man anerkennende Worte – von einer „effektiven Strategie“ im Kampf gegen das Virus war unter anderem die Rede.

In der Tat mag Deutschland die Pandemie immer noch besser im Griff haben als viele andere europäische Länder, das zeigen mitunter die Zahlen: Während die Bundesrepublik seit Ausbruch der Pandemie 935.105 Infizierte (Stand 23. November) und 14.159 Todesfälle zu verzeichnen hat, sind es in Italien bereits 1.408.868 bestätigte Fälle – und mehr als 49.800 Tote. Our World in Data

Im Vergleich mit Asien geht Deutschland als klarer Verlierer hervor

Doch richtet man den Blick auf Asien, schneidet Deutschland im Pandemie-Vergleich deutlich schlechter ab. Denn dabei zeigt sich: In Vietnam, einem Land mit vergleichbarer Einwohnerzahl, haben sich bislang nur 1307 Menschen infiziert, und zwar insgesamt. Taiwan hat die Pandemie indes nahezu völlig unter Kontrolle – seit mehr als 200 Tagen infizieren sich nur noch vereinzelt Menschen mit Sars-CoV-2. Gerade einmal 618 Menschen haben sich dort seit Beginn des Ausbruchs mit dem Virus angesteckt, nur sieben sind gestorben.

Und in Japan, wo viel mehr Menschen auf dichtem Raum leben als bei uns, stecken sich pro Kopf achtmal weniger Menschen an als in Deutschland. In Südkorea sind es sogar zwölfmal weniger. Die Frage kann daher nicht lauten: Was macht Deutschland besser? Sondern vielmehr: Was machen die westlichen Länder falsch? Our World in Data

Dass Asien aus früheren Sars-Ausbrüchen gelernt hat, zeigt vor allem das Beispiel Taiwan. So konstatierte auch der ehemalige Gesundheitsminister Taiwans, Chen Chien-jen, in einem Interview: „Wir haben uns 17 Jahre lang auf diese Corona-Pandemie vorbereitet. Nach dem Sars-Ausbruch waren wir mit der Vogelgrippe und der Schweinegrippe konfrontiert – also das gesamte Gesundheitssystem und auch unsere Seuchenschutzbehörde konnten mehrfach üben, wie man eine Pandemie kontrolliert“.

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Taiwan handelte schnell – und bekam das Virus so in den Griff

In dem Land mit 23 Millionen Einwohnern lagert die Regierung denn auch schon seit Jahren Masken und medizinisches Material ein. Bevor das neuartige Coronavirus ausbrach, wurden in Taiwan, nach China der zweitgrößte Maskenhersteller der Welt, täglich knapp zwei Millionen Masken hergestellt. Im Januar fuhr die Regierung die Produktion von Masken dann massiv hoch – auf bis zu 20 Millionen am Tag, also fast so viele, wie der Inselstaat Einwohner hat. Die Regierung brachte sogar eine „Masken-App“ auf den Markt, die in Echtzeit die Lagerbestände von Masken in Geschäften in der Nähe anzeigt.

Schnelles Handeln zeigte die Regierung auch bei der Durchsetzung anderer Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Als am 31. Dezember 2019 chinesische Behörden die erste Meldung zu einem möglichen Ausbruch in Wuhan verschickten, reagierte Taiwan sofort. „Als wir hörten, dass es in China einige geheime Fälle gab, in denen Patienten mit Lungenentzündungen isoliert wurden, da wussten wir, dass es etwas Ähnliches wie die Pandemien zuvor sein musste“, sagte Taiwans Außenminister Joseph Wu im September. So wurden Einreisende aus Wuhan noch vom selben Tag an auf Anzeichen einer Lungenentzündung kontrolliert.

Strenge Überwachung der Quarantäne-Maßnahmen

Am 20. Januar wurde dann ein Krisenzentrum aktiviert. Als es nur einen Tag später den ersten Corona-Fall in Taiwan gab, sprachen die Behörden direkt ein Einreiseverbot für Menschen aus Wuhan aus und testeten alle Einreisenden aus China, Hongkong und Macao. Trotzdem kletterte die Zahl der Infizierten in Taiwan auf über 100. Also wurden kurzerhand die Grenzen dicht gemacht – und hier profitierte Taiwan, ebenso wie Japan, durchaus von seiner geographischen Lage. Für die Inselstaaten ist es demnach ungleich leichter, sich vom Rest der Welt abzuschotten. Ein harter Lockdown war dabei nicht notwendig.

Derzeit ist die Einreise nach Taiwan laut Auswärtigem Amt noch immer nur einem eingeschränkten Personenkreis erlaubt, darunter Geschäftsreisenden, Familienangehörigen und Besuchern zu anderen Zwecken als Privatbesuchen oder Tourismus bis maximal drei Monate. Chinesischen Staatsangehörigen ist die Einreise bis auf Ehepartnern von Taiwanern weiterhin verboten.

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  • Alle Einreisenden müssen sich 14 Tage lang entweder zu Hause in einer von der Regierung bestimmten Quarantäneunterkunft in Isolation begeben, die sie vor Einreise selbst buchen müssen. Ab dem 1. Dezember bis zunächst 28. Februar 2021 müssen Reisende nach Taiwan sowie im Transit durch Taiwan außerdem beim Check-in am Flughafen einen negativen PCR-Test vorlegen.

    Diese Maßnahme überwachen die Gesundheitsbehörden in Taiwan auch konsequent. Wer etwa in Isolation oder Quarantäne trotzdem seine Wohnung verlässt, kann über sein Handy geortet werden – und muss eine hohe Geldstrafe zahlen. Gegen die Einschnitte in die Privatsphäre regt sich in der Demokratie Taiwan allerdings kein Widerstand, die strengen Maßnahmen werden zum Wohl der Allgemeinheit schlicht akzeptiert.

    Die Kehrseite der Medaille

    In Südkorea kam es dabei zu Problemen. Denn das sogenannte „Smart Management System“ der südkoreanischen Regierung kann auch auf die GPS- und Kreditkartendaten aller Bürger zugreifen. Neben erhöhten Testkapazitäten setzten die nationalen Gesundheitsbehörden schon im frühen Stadium der Pandemie Rückverfolgungs-Apps ein. Das Prinzip: Jeder, der ein Smartphone besitzt, wird automatisch über einen „Notfallhinweis“ alarmiert, wenn er oder sie in die Nähe eine Ortes kommt, der in Zusammenhang mit einem erfassten Infektionsfall steht.

    Die Gesundheitsbehörden unterteilen das Kontakt-Tracing in vier Stufen: nachforschen, das Infektionsrisiko bewerten, die Kontakte klassifizieren und diese kontrollieren. Während der Nachforschung werden Basisinformationen wie die Aufenthaltsorte der Patienten in einer bestimmten Zeitperiode zunächst im Gespräch abgefragt.

    Personen konnten leicht unfreiwillig identifiziert werden

    Werden mehr Informationen benötigt, werden auch medizinische Aufzeichnungen, GPS-Daten, Kreditkarten-Transaktionen und Aufnahmen von Überwachungskameras herangezogen. Auf der Grundlage der Daten werden die Kontaktpersonen unter häusliche Quarantäne gestellt. Morgens und abends müssen sie über eine App darüber informieren, ob sie Symptome wie Fieber oder Husten haben. Bleibt der Eintrag aus, ruft ein Beamter an. Über GPS wird jede Bewegung kontrolliert.

    Wegen der nur schwach anonymisierten SMS der Regierung konnten viele Personen aber auch leicht identifiziert werden, wie die „New York Times“ berichtete. Das führte nicht nur zu Online-Mobbing. Bei einer Ballung von Infektionen im Ausgehviertel Itaewon in der Hauptstadt Seoul im Mai dieses Jahres mussten Angehörige der LGBTQ-Szene fürchten, per Regierungs-SMS unfreiwillig geoutet zu werden.

    Auch der „ThinkThank“ Freedom House warnt vor den Einschnitten in den Datenschutz und die Privatsphäre – so könne die Pandemiebekämpfung leicht in den Überwachungsstaat führen. Die Kontrolle durch GPS und andere Technologien in Zeiten der Pandemie ist zwar in Südkorea nicht unumstritten, wird aber in dem technikaffinen Land weitestgehend akzeptiert.

    Effektive Cluster-Nachverfolgung in Japan

    Japan konzentriert sich stattdessen darauf, Cluster zu finden – ein krasser Eingriff in den Datenschutz scheint hier nicht möglich. Was der Charité-Virologe Christian Drosten also Anfang September im NDR-Podcast zur Vermeidung eines zweiten Lockdowns in Deutschland forderte, war in Japan längst der Standard. Neben der klassischen Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten sei in Japan nämlich auch mit „höchster Priorität“ gefragt worden, wo sich der Patient hätte angesteckt haben können: „Was da gemacht wurde in Japan, war, dass man eine Zusatzfrage gestellt hat, nämlich dass man nicht gefragt hat: ,Wen haben Sie in den letzten vier Tagen getroffen?', sondern auch gefragt hat: Wo könnten Sie sich eigentlich vor einer Woche infiziert haben? Wo kommt das her bei Ihnen?“

    Durch die Fokussierung auf die Infektionsquelle werde ein neu diagnostizierter Patient zum Anzeiger eines unerkannten Quellclusters, das in der Zwischenzeit gewachsen sei, erklärte Drosten. Das bedeutet: „Die Mitglieder eines Quellclusters müssen sofort in die Heimisolierung.“ Denn viele von ihnen könnten hochinfektiös sein, ohne es zu wissen – für Tests fehle dann die Zeit.

    Anstatt also viel und ungezielt zu testen, hat Japan im Vergleich zu Deutschland schon früh darauf gesetzt, Übertragungscluster zu unterbinden. „Dazu hat das Land offizielle Listen von typischen sozialen Situationen erstellt, in denen Übertragungscluster entstehen, und sie öffentlich bekannt gemacht“, führt Drosten aus. Daraufhin hätten die Gesundheitsbehörden in der Kontakthistorie eines erkannten Falls gezielt nach bekannten Clusterrisiken gesucht und Neuinfektionen begrenzen können.

    • Lesen Sie hier mehr zu Japans Erfolgsstrategie:Mit vier Stärken gegen den Lockdown: Japan hält uns im Corona-Kampf den Spiegel vor 

    Außerdem hat sich wie Taiwan auch Japan vom Rest der Welt abgeschottet: „Von April bis Oktober war es Ausländern nicht gestattet, nach Japan einzureisen“, sagt Peter Anders, Leiter des Goethe-Instituts in der japanischen Hauptstadt Tokio. Nur langsam dürfen Ausländer nach einer Ausreise auch wieder zurück in das Land kommen, sofern sie einen geregelten Aufenthaltsstatus haben. Für Geschäftsleute würde es wenige Ausnahmen mit einigen Ländern geben. Touristen hingegen, so Anders, seien weiterhin nicht erwünscht.

    Kulturelle Faktoren weiterer Grund für Erfolg

    Als weiterer Vorteil im Kampf gegen die Pandemie gilt aber auch die gesellschaftliche Etikette. Anders fasst diese so zusammen: „Die Japaner sind ein Volk des „Social Distancing“ – kein Händeschütteln, keine Umarmung, schon gar kein Bussi zur Begrüßung.“ Gleichzeitig werde das Thema Sauberkeit und Hygiene großgeschrieben.

    Insofern seien die Anti-Corona-Maßnahmen keine Zumutung für die Menschen gewesen, erklärt Anders. „Das Tragen der Maske gehörte schon vor Corona zur Normalität – sie ist dazu da, andere zu schützen.“ Der gesellschaftliche Zusammenhalt habe in Japan denn einen hohen Stellenwert: „In Zeiten der Bedrohung gilt das Kollektiv in Japan als Garant des Überlebens – Individualität ist ein Störfaktor. Man reiht sich ein – zum Wohle des Ganzen.“

    Japans Maßnahmen im Kampf gegen das Virus haben sich bewährt: Seit Sommer hat das Land kontinuierlich weniger als 1000 neue Ansteckungen pro Tag, gestorben sind bisher insgesamt 1946 Menschen.

    Deutschland hat seine Zeit weitgehend verschleudert

    Die australische Epidemiologin Zoë Hyde von der Universität von Westaustralien in Perth resümierte kürzlich bei „tagesschau.de“: „Die Länder, die die Pandemie zutreffend als größte Gefahr für die Bevölkerung überhaupt erkannt und entsprechend reagiert haben, haben sie bislang auch am besten im Griff.“

    Sie hätten erkannt, dass eine weitgehende Unterdrückung die beste Strategie für öffentliche Gesundheit und die Wirtschaft gleichermaßen sei. „Viele asiatische Länder haben nach der Sars-Krise massiv in ihr Gesundheitssystem und die Pandemievorsorge investiert. Sie wussten, dass sie am Anfang der Pandemie schnell reagieren müssen und waren auf eine lange und andauernde Antwort vorbereitet."

    Ihre Bilanz für Deutschland und Europa fiel dagegen ernüchternd aus: „Die Pandemie verlangt eine nachhaltige Antwort. Die Frühjahrs-Lockdowns in Europa waren ein effektives, wenngleich plumpes Mittel, um das Virus schnell zu unterdrücken.“ Die Zeit, die man sich damit erkaufte, sei allerdings „weitgehend verschleudert“ worden. So hätte die Zeit genutzt werden müssen, um die Test- und Kontaktverfolgungs-Infrastruktur deutlich besser aufzustellen.

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