"Es ist absurd: Man verdient in diesem Pflegesystem mit schlechter Pflege mehr als mit guter"

Es gibt Tage, da ist Christiane Schiedel einfach nur wütend. Neulich war wieder so ein Tag. Gerade hatte sie ein Konzept für die Corona-Schnelltests erstellt, die Dienste mit den Pflegekräften abgestimmt, Briefe an die Angehörigen verschickt. Dann kam die Mail: der Entwurf für die neue Gesetzesverordnung für Pflegeheime in Zeiten von Corona. Noch längere Besuchszeiten pro Tag. Noch mehr Tests pro Woche. Wer, fragte sie sich, sollte die ganze Arbeit eigentlich machen?

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Das Johanniter-Stift Münster ist ein moderner, heller Bau mit Sonnenterrasse und Hochbeeten. Seit vier Jahren ist Christiane Schiedel hier Leiterin. Die 46-Jährige arbeitet schon seit Langem daran, die Strukturen in Pflegeeinrichtungen zu verbessern, Prozesse neu zu denken, Pflegekräften eine Stimme zu geben. "Pflege ist eine reine Mangelwirtschaft", sagt sie. "Seit mehr als 20 Jahren ist bekannt, dass wir unterbesetzt sind." Doch die Reformversuche der Politiker seien nie vorangetrieben worden. Offenbar habe niemand eine Notwendigkeit gesehen.

Und dann kommt plötzlich noch das ­Coronavirus dazu. Und all diese ganzen Verordnungen, "wie im Schnellschuss­verfahren", sagt Schiedel. Niemand würde prüfen, ob sich die Konzepte überhaupt umsetzen ließen. Niemand zuhören, was die Pflege eigentlich braucht. Geld. Zeit. Wertschätzung.

Wirtschaftlichkeit steht häufig vor Menschlichkeit

Die Probleme im deutschen Pflegesystem sind über Jahrzehnte gewachsen. Eines ist der demografische Wandel. Derzeit gelten 4,1 Millionen Menschen in Deutschland als pflegebedürftig. Und bald kommt die Generation der Babyboomer in die Jahre. Der Bremer Pflegeökonom Heinz Rothgang hat in einem Gutachten errechnet, dass Heime bundesweit 120.000 zusätzliche Pflegekräfte benötigen – ohne Pandemie. Doch der Arbeitsmarkt ist leer gefegt. Viele gute Altenpflegerinnen steigen aus, vor allem wegen der schlechten Arbeits­bedingungen. Der Stress ist groß, die psychischen und körperlichen Anforderungen enorm, die Bezahlung dagegen vergleichsweise schlecht. Der Mindestlohn für Pflegehilfskräfte liegt bei 11,60 Euro im ­Westen und 11,20 Euro im Osten. Ab Juli 2021 soll bundesweit ein neuer Tarifvertrag gelten, der Mindeststandards sichert. Erstmals wird es einen Mindestlohn für examinierte Pflegekräfte von bundesweit 15 Euro geben. Dieser wird stufenweise angehoben und ab Januar 2023 mindestens 18,50 Euro pro Stunde betragen. Auf diese Weise kann das Lohndumping vor allem kommerzieller Betreiber unterbunden werden. "Bessere Tarifverträge bleiben davon unberührt und sind auch weiterhin notwendig", sagt Matthias Gruß von Verdi.

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Pflege in Deutschland ist ein industrialisierter Prozess, der Markt mit 15.400 ­Heimen zersplittert. Gut 40 Prozent davon befinden sich in der Hand von privaten ­Betreibern, viele wollen Rendite erzielen. Alles muss schnell gehen, effizient sein, kostensparend. Pflegekritiker wie der ­Sozialpädagoge Claus Fussek prangern das seit Jahren an. Fussek sagt: "Es ist absurd: Man verdient in diesem Pflegesystem mit schlechter Pflege mehr als mit guter."

Trotzdem gibt es Einrichtungen, in denen die Würde und die Bedürfnisse der Bewohner im Vordergrund stehen. In denen engagierte Führungskräfte Konzepte einsetzen, mit denen gute Pflege gelingen kann. Führungskräfte wie Christiane Schiedel.

„Es ist immer jemand für sie da“

Sie führt durch lange Gänge mit Teppichboden, vier Etagen, jede mit einer offenen Wohnküche und einem Aufenthaltsbereich mit Relaxsessel, künstlichem Kamin und Flachbildfernseher. 20 Menschen leben hier. Zwei examinierte Pflegekräfte plus Pflegehelfer kümmern sich jeweils um zwei Etagen und 40 Bewohner, in der Frühschicht, in der Spätschicht, in der Nacht, manchmal sogar zu dritt. Mehr gibt der Pflegeschlüssel nicht her.

Trotzdem ist von Hektik an diesem Morgen in Münster nichts zu spüren. Vier Bewohner sitzen in der Wohnküche. Eine Mitarbeiterin mit Mundschutz serviert einem Mann Kaffee und ein frisch belegtes Sandwich. 10.35 Uhr. Ein spätes Frühstück für ein Pflegeheim. "Die Bewohner können jederzeit kommen", sagt Schiedel. "Es ist immer jemand für sie da."

Möglich machen das 40 Pflegehelfer. Sie nehmen den Pflegekräften Aufgaben ab, für die sie kein medizinisches Wissen brauchen. Aufstehen, waschen, anziehen, füttern, Essen anreichen. Dazu kommen Mitarbeiter vom Sozialen Dienst, vom hauswirtschaftlichen Präsenzdienst und die Ehrenamtlichen. "Die Abläufe sind gut organisiert", sagt Schiedel. Auch das Impfen funktionierte ohne Probleme. Es gab genügend Zeit für Gespräche, Aufklärung, Information. 90 Prozent der Bewohner und 80 Prozent der Mitarbeiter erhielten das Vakzin, die meisten haben bereits den zweiten Piks hinter sich.

Es kann auch anders funktionieren

Die Warteliste für einen Pflegeplatz im Johanniter-Stift ist lang. Auch Heike Brumby wünschte sich für ihre Mutter, die im April 2017 einen Schlaganfall erlitten hatte, einen Platz bei den Johannitern. Weil keiner frei war, meldete Brumby ihre Mutter in einer anderen Einrichtung an, zur Kurzzeitpflege. "Eine ganz neue Anlage", sagt sie. "Auf den ersten Blick sah alles toll aus." Doch dann kam der erste Abend.

Im Zimmer ihrer Mutter hörte Brumby, wie sich auf dem Flur die Pflegekräfte stritten: "Sie rannten immer wieder brüllend aus den Zimmern. Das war fürchterlich." Dann sah sie, dass die Medikamente nicht da waren, die ihre Mutter jeden Tag brauchte. Brumby hatte das extra vorher angemeldet. Als sie eine Pflegerin darauf ansprach, fragte die zurück: "Was ist Ihre Mutter denn? Diabetikerin? Was bekommt sie gespritzt? Wie viel?"

An diesem Abend ging Brumby mit einem schrecklichen Gefühl nach Hause, erzählt sie: "Ich hatte Angst, dass meine Mutter die Nacht nicht überlebt."

Am nächsten Tag klingelte Brumbys Telefon. Die Johanniter waren dran, ein Zimmer war frei geworden. Seitdem lebt Ortrud Brumby im Johanniter-Stift. "Meine Mutter ist hier richtig aufgeblüht", sagt Heike Brumby. "Die Pflegerinnen sind nett und nehmen sich Zeit. Die Atmosphäre ist super. Kein Vergleich zum Heim davor."

Für Claus Fussek sind solche Schilderungen Alltag. "Die Erfahrungsberichte über menschenunwürdige Zustände in vielen Pflegeheimen sind kaum auszuhalten."

„Der Arzt im Krankenhaus war entsetzt“

Berichte wie der von Anke Gemmel, die als Krankenpflegerin im Mai 2020 ehrenamtlich in einer Senioreneinrichtung half: "Die Bewohner waren verwahrlost und verdreckt. Viele waren mangelernährt und hatten Flüssigkeitsdefizite. Demenzkranke wurden in den Zimmern eingesperrt."

Berichte, wie der von Manuel Voss (Name von der Redaktion geändert), der seine Mutter im August 2020 in ein Pflegeheim im Münchner Umfeld brachte. "An manchen Tagen traut sie sich kaum zu klingeln, wenn sie auf Toilette muss. Entweder dauert es ewig, bis jemand kommt. Sie wird beschimpft. Oder direkt ins Bett gebracht", sagt Voss. "Oft hat meine Mutter Schmerzen vom Zurückhalten."

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Berichte, wie der von Maria Meissner (Name von der Redaktion geändert), die im Juli 2020 die Pflegekräfte dazu drängte, den Rettungsdienst anzurufen, weil ihre Mutter in einem Heim in Starnberg vor Schmerzen schrie – und ihr damit das Leben rettete. "Der Arzt im Krankenhaus war entsetzt", sagt Meissner. "Meine Mutter litt unter schwerem Flüssigkeitsmangel."

Unter dem Notstand leiden alle

In vielen Heimen leiden die Bewohner unter dem Pflegenotstand. Und mit ihnen die Pflegekräfte. Im Schnitt verlassen sie nach acht Jahren den Beruf. Die Arbeit müssen diejenigen machen, die noch da sind. Und es ist fast unmöglich, neue Kolleginnen zu finden. Seit September 2020 ist im Johanniter-Stift etwa eine Stelle ausgeschrieben. "Früher konnten wir aus einem Stapel Bewerbungen die beste aussuchen", sagt Anke Liebscher, Pflegedienstleitung bei den Johannitern in Münster. "Heute ist es ein Glücksfall, wenn sich eine examinierte Pflegekraft bewirbt." Erst vor ein paar Wochen lag wieder eine Kündigung auf Liebschers Schreibtisch. Eine Pflegerin hatte eine Stelle im Krankenhaus angenommen, weil das Krankenhaus besser zahlte. "Das ist maximal frustrierend", sagt Liebscher.

Die Politik hat erkannt, dass etwas passieren muss. Trotzdem findet sie keine wirksamen Gegenmaßnahmen. Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sieht ab 2021 zusätzliche 20.000 Stellen für Pflegehilfskräfte vor. Doch dieser Ansatz ist in der Pflege umstritten. "Mehr Hilfskräfte sind ein guter Weg, aber wir brauchen mindestens genauso viele Fachkräfte", sagt Christiane Schiedel. Menschen, die Konzepte entwickeln, die Qualität sicherstellen.

Claus Fussek, der Pflegekritiker, fordert einen Systemwechsel nach der Pandemie. "Seit vielen Jahren gibt es schlimmste Missstände, auch Todesfälle, in Pflegeheimen, aber niemanden hat das wirklich interessiert", sagt Fussek. "Wir müssen das Problem jetzt endlich in den Griff kriegen – gemeinsam. Das ganze Pflegesystem muss auf den Prüfstand." Dazu brauche es eine gesamtgesellschaftliche Solidarität wie in der #MeToo-Debatte, sagt Fussek: "Die Gesellschaft muss Pflege zur Schicksalsfrage der Nation machen."

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