Wie Großmütter in Simbabwe ihre Nachbarn therapieren – und warum das Programm so erfolgreich ist

Keine Praxisräume, keine gepolsterten Couches, keine hochqualifizierten Therapeuten. Stattdessen nehmen die Patienten auf einer einfachen Holzbank im Schatten von Bananenstauden Platz. "Großmutter" nennen sie die älteren Frauen, die dort sitzen und den Problemen, Sorgen und Ängsten ihrer Nachbarn lauschen. "Friendship Bench" nennt sich das alternative – und überaus erfolgreiche – Therapie-Konzept, das sich in Simbabwe etabliert hat. Im ganzen Land verteilt sitzen Hunderte Großmütter auf Holzbänken und hören all denjenigen zu, die jemanden zum Reden brauchen. Studien haben gezeigt, dass der Therapie-Ansatz bei leichten bis mittelschweren Angstzuständen und Depressionen heilsamere Effekte erzielen kann als traditionelle Gesprächstherapien und medizinische Behandlungen. 

Ein Viertel der Bevölkerung leidet an „Kufungisisa“

Nach Angaben der "Born this Way Foundation" leiden etwa 25 Prozent der gesamten Bevölkerung Simbabwes an Depression, die in dem Land als "Kufungisisa" bekannt sind. Das Wort aus der Sprache des Shona-Volkes bedeutet wörtlich übersetzt "zu viel nachdenken". Der hohen Rate an Depressionen liegen laut einem Bericht des Portals "Positive News" mehrere Traumata auf nationaler Ebene zugrunde, darunter der Gukurahundi-Völkermord, eine HIV-Pandemie sowie die Kampagne des Diktators Robert Mugabe im Jahr 2005 zur gewaltsamen Räumung von Slums, die 700.000 Simbabwer obdachlos machte.

Gegenwärtig treiben vor allem Krankheiten und Arbeitslosigkeit – 70 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze – die Menschen zur Verzweiflung. Doch Depressionen werden oft nur unzureichend erkannt und behandelt. In der sehr abergläubischen und religiösen Gesellschaft Simbabwes werden psychisch kranke Menschen ausgegrenzt, stigmatisiert und manchmal sogar als besessen angesehen, schreibt der "Guardian". 

Besonders ärmere Menschen haben kaum Zugang zu ärztlicher Behandlung. Auf eine Gesamtbevölkerung von 16 Millionen Menschen kommen in Simbabwe nur 13 Psychiater. Dr. Dixon Chibanda, Direktor der "African Mental Health Research Initiative" und Professor für Psychiatrie an der Universität von Simbabwe und der London School of Hygiene and Tropical Medicine, ist einer von ihnen. 2004 beging eine seiner Patientinnen Selbstmord, nachdem sie in ihrem Dorf keine psychiatrische Unterstützung bekommen hatte und nicht einmal 15 Dollar für die Busfahrt in die Hauptstadt Harare aufbringen konnte. "Da wusste ich, dass ich die Psychiatrie aus dem Krankenhaus in die Gemeinschaft verlagern musste", erzählt Chibanda im Gespräch mit "Positive News". Er fragte sie, wie man die Menschen erreichen könnte, die am dringendsten Hilfe benötigen; wie man die finanziellen, geografischen und kulturellen Hürden abbauen könnte. Die Lösung: alte Damen.

Großmütter nehmen eine Ratgeber-Rolle ein

"Die wichtigste Ressource, die in den meisten Gemeinden noch übrig ist, sind Großmütter, denn sie sind die Hüter der lokalen Kultur und Weisheit", zitiert der "Boston Globe" den Psychiater. Die Frauen sind auch als "Gogos" ("ältere Frauen") oder "Ambuya Utano" ("Gemeinschaftsomas") bekannt und nehmen in der simbabwischen Gesellschaft traditionell die Rolle der Ratgeberinnen ein. Als erfahrene und einfühlsame Damen genießen sie hohes Ansehen, weshalb sich die Großmütter in den Augen Chibandas perfekt als Amateur-Therapeutinnen eignen.

The Orange Bakery
Kitty Tait hatte schwere Depressionen. Dann fing sie an, Brot zu backen – das veränderte ihr Leben

Zwar haben die Frauen meist kein medizinisches oder psychisches Hintergrundwissen, werden jedoch in den Grundlagen der Verhaltenstherapie geschult, bevor sie eine Parkbank in ihrer Gemeinde zugewiesen bekommen. Dort sollen sie – so die Mission der "Friendship Bench" – "sichere Räume und ein Zugehörigkeitsgefühl in der Gemeinschaft schaffen, um das psychische Wohlbefinden zu verbessern und die Lebensqualität zu verbessern".

Wer auf der "Friendship Bench" behandelt werden darf, entscheiden die Großmütter anhand des "Shona Symptom Questionnaire", einem Fragebogen, der auf simbabwischen Konzepten psychischer Erkrankungen basiert. Schwere Fälle werden an eine klinische Einrichtung weitergeleitet, alle anderen dürfen die Therapie bei den Großmüttern in Anspruch nehmen. 

„Den Geist öffnen“ und über Probleme reden

Die Großmütter hören nicht nur zu, sondern helfen auch mit praktischen Ratschlägen. "Bei meiner Arbeit geht es darum, Leben zu verändern und die Art und Weise zu ändern, wie Menschen ihr Leben sehen", erklärt eine Großmutter namens Felistas Gasa gegenüber "Positive News". Ihr Klient Elton Mudzingwa, ein alkoholabhängiger Straßenhändler, der um den Verlust seiner Frau trauerte, schaffte es, dank ihrer Unterstützung mit dem Trinken aufzuhören. "Ich hatte das Gefühl, sie würde sich um mich kümmern", erzählt der 47-Jährige. Da er die freundliche Frau aus der Nachbarschaft bereits kannte, habe er sich ermutigt gefühlt, sein Leiden offenzulegen. Ein Schritt, der in der Shona-Sprache als "Kuvhura Pfungwa" ("den Geist öffnen") bekannt ist.

https://www.instagram.com/p/CrcmJYlNKUi/
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Ein Schritt, der elementar für das gesamte Konzept ist, das mit der sogenannten "Problemlösungstherapie" arbeitet. Dabei sollen die Großmütter "den Menschen das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden und ihnen helfen, Selbstvertrauen zu finden, um Probleme selbst lösen zu können", schreibt der "Boston Globe". Dies soll in einer Gesprächstherapie passieren, die laut dem "Global Centre for Mental Health" in der Regel sechs Sitzungen von je 45 Minuten umfasst. 

Selbsthilfegruppe bietet fortlaufende Unterstützung

Nach Abschluss der Sitzungen können die Patienten Teil einer Selbsthilfegruppe werden, dem sogenannten "Circle Kubatana Tose", was auf Deutsch "Händchenhalten im Kreis" bedeutet. Die Teilnehmer können über die Herausforderungen sprechen, vor denen sie stehen; darüber "wie sie mit dem Leben zurechtkommen oder wie sie sich fühlen, wenn sie mit dem Leben nicht zurechtkommen", heißt es auf der "Friendship Bench"-Webseite. Die Gruppe ist als fortlaufende Unterstützung gedacht und soll die Therapie noch mehr in die Gemeinschaft integrieren.

Zusätzlich werden den Gruppenmitglieder "umsatzgenerierende Fähigkeiten" beigebracht, berichtet das Portal "Positive News": Sie lernen zum Beispiel, wie man Marmelade herstellt, aus alten VHS-Kassettenbändern Taschen häkeln und Brotöfen baut. Laut einer 2021 veröffentlichten Studie im "Global Mental Health Journal" behalten 67 Prozent der weiblichen Gruppenmitglieder diese Projekte bei oder erweitern sie sogar.

Großmütter machen die „Friendship Bench“ zum Erfolg

Rund 280.000 Menschen haben laut Angaben von "Positive News" bereits auf einer "Friendship Bench" Platz genommen. Chibanda und sein Team haben in der gleichen Zeit mehr als 600 Großmütter zu Gesundheitshelferinnen ausgebildet, die ihre Dienste kostenlos in mehr als 70 Gemeinden in Simbabwe anbieten, berichtet das "Centre for Global Mental Health". Dass das Modell zum Erfolg geworden ist, liegt zum größten Teil an den Großmüttern selbst: An der Tradition des Respekts vor afrikanischen Matriarchinnen, ihrer Beraterfunktion und ihrer Bekanntheit in der Nachbarschaft – sie werden viel mehr als Freundinnen wahrgenommen statt als Ärzte.

Und sie haben dem gesamten Projekt von Beginn an einen lokalen Anstrich verliehen, auf den auch Chibanda Wert gelegt hatte. "Wir verwenden eine Sprache, die in der Community Anklang findet. Eine Sprache, die kulturell angemessen ist, obwohl wir einen klinischen Service anbieten", erklärt der Psychiater im Gespräch mit dem Nachrichtenportal "Bloomberg". Die "Öffnung des Geistes" ist ein Beispiel dafür. Gleiches gilt für Wörter wie "Kusimudzira" ("erhebend") und "Kusimbisa" ("Stärkung") sowie für der Name "Friendship Bench".

Psychische Probleme werden nicht durch fachliche medizinische Diagnosen benannt, sondern durch lokale kulturelle Konzepte beschrieben. "Wir haben diese Worte verwendet, um eine wissenschaftliche Intervention zu verpacken, und deshalb ist sie akzeptabel", erklärt Chibanda dem "Guardian". Das soll wiederum zur Entstigmatisierung psychischer Probleme beitragen. "Wenn man das Programm in der Landessprache bewirbt, ist es akzeptabler und die Leute verstehen es besser und können sich damit identifizieren", meint Charmaine Chitiyo, eine der Großmütter, im "Boston Globe".

Depressionen gehen um bis zu 85 Prozent zurück

Im konservativen Simbabwe sei es schon ein Sieg für sich, die Menschen dazu zu bringen, sich mit ihrer psychischen Gesundheit auseinanderzusetzen, sagt Joyce Ncube, eine weitere Großmutter, dem "Guardian". "In unserer Kultur wird man verspottet, wenn man über seine geistige Gesundheit spricht", bestätigt eine 49-jährige arbeitslose Mutter von drei Kindern, die auf einer "Friendship Bench" Unterstützung gefunden hat. Sie wollte unbedingt über ihre Probleme reden und habe im Gespräch mit den Großmüttern "das Gefühl, dass mir eine Last vom Herzen fällt."

Simbabwe
Geheimwaffe Großmutter: Omas im Einsatz gegen die Depression

Die positiven Erfahrungen der Klienten bestätigen mittlerweile auch Dutzende Studien. Eine 2016 im "Journal of the American Medical Association" veröffentlichte Untersuchung von Chibanda und Kollegen aus Simbabwe und England teilte 573 Menschen mit Depressionen in zwei Gruppen auf. Es kam heraus, dass diejenigen, die die "Friendship Bench" besuchte, nach den Sitzungen deutlich weniger Symptome aufwiesen als die Studienteilnehmer, die eine konventionelle Behandlung erhielten. Durchschnittlich gehen die Symptome um 85 Prozent zurück, fasst Chibanda die Forschung im Beitrag der "Born this Way Foundation" zusammen.

Auch die Großmütter profitieren von den Gesprächen

Eine weitere Studie aus dem "Global Mental Health Journal" kam zu dem Ergebnis, das der Anteil der Frauen mit Depressionen oder Suizidgedanken von 68 auf 12 Prozent sank. Die Studienteilnehmerinnen schätzten in dem Gespräch mit den Großmüttern vor allem die "etablierte und vertrauensvolle Beziehung, die Vertraulichkeit gewährleistete". Das Gefühl von Akzeptanz und Zugehörigkeit beruht auf Gegenseitigkeit. "Die Leute kommen immer wieder zu mir – das zeigt mir, dass ich in der Gemeinschaft gute Arbeit leiste", sagt eine Großmutter namens Sainah Dovi dem "Boston Globe".

Obwohl die älteren Frauen aus den gleichen Gemeinden stammen wie ihre Patienten und oft dieselben sozialen Traumata durchlebt haben, stellt Chibanda bei ihnen eine "erstaunliche Widerstandsfähigkeit" fest: Sie leiden selten an posttraumatischen Belastungsstörungen und anderen psychischen Erkrankungen. "Es scheint sich ein Konzept des Altruismus herauszubilden, bei dem die Großmütter wirklich das Gefühl haben, dass es ihnen etwas bringt, wenn sie etwas im Leben anderer bewirken", sagt der Psychiater der BBC.

Einfacher Ansatz mit bedeutsamer Wirkung

Der Einsatz der geschulten Laien kann dazu beitragen, die Behandlungslücke bei psychischen Erkrankungen zu schließen, resümiert eine weitere Studie aus dem "International Journal of Mental Health Systems" – und das nicht nur in Simbabwe. Dr. Nilofer Naqvi, ein Psychologe, der in Subsahara-Afrika arbeitet, sagte gegenüber "Positive News", dass man aus dem Projekt "Lehren für die Ausweitung des Zugangs zur psychischen Gesundheitsversorgung für marginalisierte Gemeinschaften" auf der ganzen Welt ziehen kann.

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Es handelt sich im Grund im einen "einfachen Ansatz, der jedoch sehr wirkungsvoll ist, wenn es darum geht, Personen zu stärken, die Symptome einer Depression aufweisen", erläutert Chibanda in einem Video der "African Academy of Science". Seine Idee befähigt Menschen ohne viel Hintergrundwissen Verantwortung für das psychische Wohlergehen ihrer Gemeinschaft zu übernehmen. Es sei eine effektive Möglichkeit, das in die Praxis umzusetzen, was die Menschheit seit jeher weiß: Dass eine gute Verbindung der wichtigste Faktor für eine gute psychische Gesundheit ist, meint der "Boston Globe".

„Friendship Benches“ sind Vorbilder für andere Länder

Weil das Modell leicht nachzubilden ist, hat es sich inzwischen auch in anderen Ländern verbreitet, etwa in Malawi, Kenia, Sansibar und Vietnam. Auch in New York City liefen die "Friendship Benches" erfolgreich an. Wie "Deutschlandfunk" berichtet, nahmen 2019 etwa 60.000 Patienten Platz auf einer der knallorangefarbenen Bänke, die in den Stadtteilen Bronx und Harlem standen. Als die Finanzierung wegfiel, musste das Projekt jedoch eingestampft werden.

Dafür exportierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die "Friendship Benches" im vergangenen Jahr zur Fußballweltmeisterschaft nach Katar. 32 Bänke, die jeweils eines der teilnehmenden Teams repräsentierten, wurden vorübergehend in Doha platziert. Die "Friendship Benches" beschreibt die WHO als "sichere Orte, an denen Menschen miteinander reden können". Die Gesprächstherapie könne Menschen helfen, die unter Erkrankungen wie Angstzuständen und Depressionen leiden, betont die Organisation.

Kommendes Jahr soll ein erster Pilotversuch mit den "Friendship Benches" in London starten. "Ob London, New York oder Simbabwe, überall sind die Probleme ähnlich", sagt Chibanda der BBC. Deshalb glaubt er, dass das Programm sich für jede Gemeinde eignet, die daran interessiert ist, den Bewohnern erschwingliche, leicht zugängliche und wirksame Hilfe anzubieten. 

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