Krebstherapie: Leben mit späten Folgen

Einmal im Jahr schlüpft Ria Kortum, 36, in ihr Shirt mit den Regenbogenfarben. Gemeinsam mit anderen bunt gekleideten Radlern geht sie auf Tour, um Kindern in Krebskliniken Hoffnung zu geben. Sie sollen sehen, dass man die Krankheit besiegen kann. So wie Ria Kortum sie besiegt hat – und die anderen Regenbogenfahrer der Deutschen Kinderkrebsstiftung. "Es ist eine wunderbare Erfahrung", sagt die junge Frau.

Beim Rezidiv war die Therapie noch härter

20 Jahre ist es her, da kämpfte Ria Kortum selbst gegen Krebs. Sie war 16 Jahre alt und fieberte einer Reise in die USA entgegen, als hohes Fieber ihre Pläne zerstörte. Die Diagnose: Lymphdrüsenkrebs. Die Chemotherapie war hart, hatte aber Erfolg – bis der Krebs zwei Jahre später zurückkehrte.

"Ich war wie gelähmt", erinnert sich Ria Kortum. Sie wusste: Diesmal wird es noch härter. Die einzige Hoffnung war eine Transplantation von Stammzellen aus dem Knochenmark. Monate verbrachte die Jugendliche in Kliniken, teils auf der Isolierstation, erhielt eine Hochdosis-Chemo, Bestrahlungen.

An diesen Tumorarten leiden Kinder

In Deutschland erkranken jährlich etwa 2100 Personen unter 18 Jahren an Krebs:

  • Leukämien 30,4 Prozent
  • Hirntumore 23,6 Prozent
  • Tumore des Lymphsystems 14,3 Prozent
  • Tumore des Weichteilgewebes 5,9 Prozent
  • Tumore der peripheren Nerven 5,7 Prozent
  • Knochentumore 5,2 Prozent
  • Nierentumore 4,7 Prozent
  • Keimzelltumore 4,1 Prozent
  • Sonstige Diagnosen 6,1 Prozent

Quelle: Jahresbericht 2016 des Deutschen Kinderkrebsregisters

Babywunsch schien unerfüllbar

Ria Kortum wurde geheilt. Wie inzwischen die meisten, die früh im Leben an einem Tumor erkranken. Die Behandlung von Krebs im Kindes- und Jugendalter ist eine Erfolgsgeschichte. Noch Anfang der 1960er-Jahre starben vier von fünf der betroffenen Kinder. Heute überleben in Deutschland 82 Prozent mindestens 15 Jahre, bei Leukämien sogar rund 90 Prozent.
Doch die Heilung hat einen Preis, auch bei Ria Kortum. Ein Baby zu bekommen – der Wunsch schien unerfüllbar. "Ich hatte einen Hormonspiegel wie eine 60-Jährige." Auch ihr Risiko, erneut an Krebs oder am Herzen zu erkranken, ist erhöht. "Insgesamt geht es mir aber gut", sagt die promovierte Heilpädagogin. Aus ihrer Arbeit bei der Kinderkrebsstiftung weiß sie jedoch, dass es nicht allen früh Erkrankten so geht. Laut Studien leiden etwa zwei Drittel an Spätfolgen.

Schäden kommen oft spät ans Licht

Viele Schäden zeigten sich erst, als die jungen Tumorpatienten älter wurden. "In der Forschung sind diese inzwischen ein großes Thema", berichtet Dr. Desiree Grabow vom Deutschen Kinderkrebsregister. Schon früh war bekannt, dass eine Krebstherapie ihrerseits zu Krebs führen kann. "Innerhalb von 30 Jahren erkranken knapp sieben Prozent der behandelten Patienten an einem Zweittumor", so Grabow.

Wie man heute weiß, ist die Liste möglicher Folgen aber deutlich länger. Häufig kommt es zu Seh- und Hörproblemen, Schäden an Nieren und Nerven, Wachstums- und Hormonstörungen sowie Herzkrankheiten, die teils erst Jahrzehnte nach der Therapie auftreten. Betroffene berichten zudem von Zahnproblemen. Auch der Knochen wird brüchig oder stirbt sogar stellenweise ab.

Körper und Psyche angegriffen

Insgesamt haben Krebsüberlebende mit Mitte 30 etwa doppelt so viele chronische Erkrankungen wie Menschen, die keine Tumortherapie hinter sich haben. Das ergab eine Studie des St. Jude Children’s Research Hospital in Memphis (USA).

Doch nicht nur der Körper leidet. "Bei früh erkrankten Kindern wird der Krebs in der Pubertät fast immer erneut ein Thema", berichtet Petra Waibel, Leiterin von Kona, der "Koordinationsstelle psychosoziale Nachsorge". Seit 2003 unterstützt das Projekt in München Familien mit krebskranken Kindern. Eine Hürde für viele früh Erkrankte sei zum Beispiel die Berufswahl. Wie soll man einen fordernden Job durchhalten, wenn die Gelenke schmerzen oder die Konzentration schwächelt? "Jetzt hab ich so hart gekämpft, um den Krebs zu besiegen – für das?" Solche Worte hört Waibel öfter. Im Rahmen des Projekts "Jugend und Zukunft" hilft Kona Krebsüberlebenden, ihren Weg in die Selbstständigkeit zu finden – trotz Ängsten und Einschränkungen.

"Man darf jedoch nicht vergessen, dass viele Kinder unbeschadet durch die Therapien gehen", betont Sozialpädagogin Waibel. Auch später fühlen sie sich gesund, haben Familie, einen erfüllenden Beruf. Manche berichten sogar, dass sie gestärkt aus der Erkrankung herausgekommen sind. Experten nennen solch eine Entwicklung posttraumatisches Wachstum.

Abrüstung bei den Therapiemaßnahmen

Was das Risiko für Spätschäden anbelangt, gibt es ebenfalls erste Erfolge. "Anfangs ging es um das reine Überleben", erklärt Grabow. Um dieses Ziel zu erreichen, fuhr man schwere Geschütze auf. Sobald klar wurde, dass der Preis oft hoch ist, fragten sich Mediziner sofort: Auf welche Munition kann man gefahrlos verzichten und bei wem?

Innerhalb weniger Jahrzehnte gelang es, die Aggressivität der Therapien deutlich zu senken – und damit das Risiko für behandlungsbedingte Erkrankungen. Das zeigen auch neue Langzeitdaten aus den USA. Erfolgte die Diagnose in den 1970er-Jahren, lag das Risiko für schwere Spätfolgen bei 12,7 Prozent. 20 Jahre später hatte sich die Wahrscheinlichkeit bereits um rund ein Drittel verringert.

Schonendere neue Verfahren

"Vor allem bei der Bestrahlung ist man heute zurückhaltender", erklärt Dr. Gabriele Calaminus, Krebsexpertin an der Kinderklinik der Universität Bonn. Moderne Methoden wie die Protonentherapie ermöglichen es, die Strahlung im Tumor zu konzentrieren und gesundes Gewebe zu schonen. Neue Behandlungen wie die Immuntherapie greifen den Krebs gezielter an. Auch das Profil vieler Erkrankungen lässt sich heute individuell bestimmen. Das hilft zu erkennen, ob eine sanftere Therapie ausreicht oder diese intensiv sein muss.
Und die Forschung geht weiter. Um Wissen über mögliche Spätfolgen zu sammeln, haben sich Experten europaweit in dem Netzwerk Pancare zusammengeschlossen. Auch in Deutschland laufen viele Studien, die helfen sollen, die Risiken für Krebsüberlebende zu erkennen und zu verringern.

In Zukunft maßgeschneiderte Strahlendosis

Zum Beispiel bei der Strahlentherapie. In dem Forschungsverbund Isibela etwa wird der Zusammenhang von Strahlendosis und Zweittumor exakt erfasst. Den Patienten wird zudem eine Hautprobe entnommen und diese im Labor Strahlen ausgesetzt. "So zeigt sich, ob es Personen gibt, bei denen die Schäden besser repariert werden können", erklärt Professorin Maria Blettner, die an der Uni Mainz den Forschungsverbund leitet. In Zukunft will man so vor der Behandlung erkennen, welcher Patient besonders sensibel auf Strahlung reagiert.

Für die Patienten, die jetzt mit Spätschäden leben müssen, kommen die Erkenntnisse freilich zu spät. Das Problem beginnt für sie bereits bei der Suche nach dem richtigen Arzt. Keiner fühlt sich zuständig. Experten arbeiten daran, die Nachsorge zu verbessern. "Etwa jeder fünfte Überlebende hat einen erhöhten Beratungsbedarf", sagt Calaminus.

Ausweis für Überlebende

Ziel ist es, ein Netzwerk aus Kliniken aufzubauen, an denen spezialisierte Sprechstunden für junge Krebsüberlebende angeboten werden. Eine wichtige Hilfe wäre nach Ansicht von Experten ein "Survivor Passport". Dieser enthält Informationen über Diagnose, Therapien und aufgetretene Nebenwirkungen.

Einen gewissen Preis wird die Heilung wohl aber weiterhin haben. Doch auch wenn Spätfolgen manche Überlebenden irgendwann einholen: Die meisten sind dankbar für die geschenkten Jahre. Wie Ria Kortum. "Ich fühle mich fit." Nur der Gedanke, keine eigenen Kinder zu bekommen, war für sie hart. "Tests zeigten, dass es keine Chance gibt", erzählt sie. Aber dann wurde sie plötzlich schwanger. Vor fünf Jahren kamen ihre Zwillinge zur Welt, ein Junge und ein Mädchen. Ein kleines Wunder – so nennen es selbst die Ärzte.

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