Neue Studie: Einsame werden öfter psychisch krank – SPD will Regierungsbeauftragten
Immer mehr Menschen leben allein – auch in Deutschland. Forscher haben jetzt herausgefunden, dass Alleinlebende deutlich öfter psychisch erkranken. Die Entwicklung ist sogar zur Last für unsere Volkswirtschaft geworden. Die SPD fordert nun einen Regierungsbeauftragten gegen Einsamkeit.
Alleinlebende erkranken 1,5- bis 2,5-mal häufiger an den bekanntesten psychischen Erkrankungen als andere Menschen. Das haben jetzt Forscher der Universität Versailles Saint-Quentin-en-Yvelines herausgefunden. Dazu gehören etwa Depressionen sowie Angst- und Zwangsstörungen, berichtet das Fachblatt „PLOS ONE“. Dabei sind alle Altersgruppen und Geschlechter betroffen, wie die Wissenschaftler betonen.
Die Studie zeige jedoch nicht, ob das Alleinleben Ursache dieser Erkrankungen ist. Auch die zeitliche Reihenfolge wurde nicht untersucht. Einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Alleinleben und Erkrankungen gab es jedoch vor allem bei den Menschen, die sich einsam fühlten. Eine steigende Lebenserwartung sowie sinkende Heirats- und Geburtenraten sind drei der Gründe, die dafür verantwortlich gemacht werden, dass mehr und mehr Menschen allein leben.
Einpersonenhaushalt in Deutschland deutlich über EU-Schnitt
In Deutschland waren 2016 nach Daten des Statistischen Bundesamtes 41 Prozent aller Haushalte sogenannte Einpersonenhaushalte. Der Anteil liegt damit deutlich über dem EU-Schnitt von 33 Prozent. Die gesundheitlichen Folgen des Trends wurden schon in zahlreiche Studien untersucht. So ergab etwa eine finnische Untersuchung 2012, dass die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von acht Jahren eine Depression zu bekommen, bei Alleinlebenden um nahezu 80 Prozent erhöht sei.
Das Team um den Mediziner Louis Jacob von der Universität von Versailles nutzte nun die Daten von 20.500 Menschen aus England im Alter von 16 bis 64 Jahren, die 1993, 2000 und 2007 an der „National Psychiatric Morbidity“-Erhebung teilgenommen hatten. Dabei wurde die psychische Gesundheit der Teilnehmer mithilfe von Interviews und Fragebögen ermittelt. Zusätzlich zu den so gesammelten Daten nutzten die Forscher Informationen zu Größe und Gewicht, Alkoholabhängigkeit, Drogenkonsum, sozialem Netz sowie dem Gefühl von Einsamkeit.
In den drei Jahren stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte in der Erhebung von 8,8 auf 9,8 und schließlich 10,7 Prozent. Gleichzeitig wuchs die Rate an häufigen psychischen Erkrankungen von 14,1 auf 16,3 und 16,4 Prozent. In allen drei Umfragen war ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Alleinleben und der Verbreitung psychischer Erkrankungen feststellbar, so die Mediziner, und das unabhängig von Geschlecht oder Alter der Teilnehmer. Der größte Faktor war dabei Einsamkeit: Fühlte sich jemand einsam, war auch das Risiko einer psychischen Erkrankung besonders hoch. dpa/Marijan Murat Psychische Erkrankungen wie Burnout, Depression oder Angststörungen gehören in Deutschland zu den häufigsten Ursachen für Berufsunfähigkeit.
Gewollte Alleinsein kann auch positiv sein
Jene Feststellung ist auch für Arno Deister, Chefarzt des Zentrums für Psychosoziale Medizin des Klinikums Itzehoe zentral. In seiner unabhängigen Einordnung der Studie betont er, dass es einen Unterschied zwischen Alleinleben und Einsamkeit gebe: „Wenn das Alleinsein gewollt ist, kann es für Menschen durchaus positiv sein.“ Einsamkeit bezeichne hingegen den ungewollten Verlust von Beziehungen.
Deister wertet die Studie der Universität von Versailles als sorgfältig aufgebaut und wichtig. Der Psychiater warnt jedoch davor, vorschnell Zusammenhänge herzustellen: „In Großstädten gibt es zum Beispiel mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen, was oft mit der Anonymität dort erklärt wird“, sagt er. „Häufig suchen psychisch kranke Menschen aber bewusst die Anonymität, zudem ist die Versorgungslage in Großstädten besser.“ Zudem: Wenn Alleinsein dazu führe, dass Beziehungen fehlten, dann könne das bestimmte Erkrankungen zwar einerseits begünstigen. „Andererseits ist es etwa ein Symptom von Depressionen, dass sich Menschen zurückziehen.“
Einsamkeit noch immer „schambesetzt“
Nichtsdestotrotz sei hinreichend erforscht, dass sich Einsamkeit negativ auf die psychische Gesundheit auswirke, kommentiert Psychologie-Professor Jürgen Margraf von der Universität Bochum: „Stabile und vertrauensvolle soziale Beziehungen sind der beste Schutz für die psychische und auch körperliche Gesundheit.“
Wie die Autoren der Studie sieht Margraf gesellschaftliche Veränderungen, die das Alleinleben und somit auch das Potenzial für Einsamkeit begünstigten. Eine Einschätzung, die Deister teilt: „Wir beobachten eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft.“ Gleichzeitig habe sich das Kommunikationsverhalten, etwa durch soziale Medien, grundlegend verändert: „Die Kommunikation ist ja nicht weniger geworden, sondern wahrscheinlich sogar mehr, aber sie ist eben ganz anders.“ Zudem sei Einsamkeit immer noch schambesetzt. Viele einsame Menschen suchten sich daher keine Hilfe: „Entsprechend kommt viel aus der Einsamkeit bei uns in der Therapie nie an.“
Er plädiert dafür, das Thema gesellschaftlich zu setzen und Menschen dafür zu sensibilisieren, ein Auge auf ihre Mitmenschen zu haben. Eben jene Sensibilisierung wurde in Großbritannien medienwirksam angestoßen, in dem das Land 2018 eine Ministerin für Einsamkeit ernannte.
SPD fordert Regierungsbeauftragten gegen Einsamkeit
Die SPD fordert nun einen Regierungsbeauftragten für Deutschland, der sich um Einsamkeit und Einsamkeitsschäden in der Gesellschaft kümmert. „Bisher wurde die Zahl der Krankheiten, die durch Einsamkeit ausgelöst werden, unterschätzt", sagte der gesundheitspolitische Sprecher der SPD, Karl Lauterbach, der „Welt am Sonntag“.
Neueste Forschungsergebnisse belegten, so Lauterbach weiter, dass Einsamkeit häufig psychische Leiden wie Depressionen und Angststörungen, aber auch Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder Demenz auslöse. Das beeinträchtige die Lebensqualität der Betroffenen und führe zu hohen Kosten, da die Behandlung dieser Krankheiten teuer sei.
Auch der familienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Marcus Weinberg, kann sich in einigen Jahren einen eigenen Bereich zur Koordinierung entsprechender Programme und Maßnahmen gegen Einsamkeit auf Regierungsebene vorstellen. Es müsse mehr Angebote geben, die es einsamen Menschen ermöglichen, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sagte er der Zeitung.
Wie stark sich psychische Leiden auf die Volkswirtschaft auswirken, macht eine Studie der Europäischen Union (EU) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) deutlich. Vor allem die Tatsache, dass Menschen mit psychischen Problemen weniger arbeiten, belaste die Volkswirtschaft. Hinzu kommen höhere Ausgaben für Sozialversicherungsprogramme und für die Behandlung.
Ob jung oder alt, in der Stadt oder auf dem Land – Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet. In unserer Reihe „Allein unter Vielen“ zeigen wir Ideen und Lösungsansätze auf, die in einer solchen Situation helfen können. Die Beiträge stammen aus den Redaktionen des Publisher Netzwerks von BurdaForward.
Hier lesen Sie alle Teile der Serie.
Quelle: Den ganzen Artikel lesen