Aus dem Gleichgewicht
Als die Jugendliche in die Notaufnahme im polnischen Bydgoszcz eingeliefert wird, ist sie desorientiert, nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, hat Probleme, die Balance zu halten. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide, sie verliert das Bewusstsein. Die Ärzte verlegen sie auf die Kinder-Intensivstation der Uniklinik.
Die Eltern erzählen, dass ihre Tochter seit zwei Tagen über Kopfschmerzen geklagt habe und sich immer wieder übergeben musste. Sie nehme keine Medikamente oder Drogen und habe in den vergangenen Tagen keinen Unfall gehabt. Sie halte allerdings seit einigen Monaten Diät, und seit etwa einem halben Jahr setze ihre Periode nicht mehr ein.
Das Herz der Patientin arbeitet mit 50 Schlägen pro Minute recht langsam. Die Sauerstoffsättigung ihres Blutes liegt unterhalb der gewünschten Werte, ist aber noch nicht auf einem gefährlichen Niveau. Sie ist weiterhin bewusstlos. Zudem erleidet sie nach der Überweisung auf die Intensivstation Krampfanfälle. Die Ärztinnen verabreichen ihr daraufhin Beruhigungsmittel und beatmen sie künstlich.
Zu wenig Natrium im Blut
Ein Bluttest zeigt ein Ungleichgewicht verschiedener Stoffe, vor allem hat die Patientin viel zu geringe Mengen von Natrium und Chlorid im Blut. Die Jugendliche ist sehr dünn: Bei einer Größe von 1,70 Metern wiegt sie gerade einmal 45 Kilogramm. Es ist zu vermuten, dass sie an einer Magersucht leidet, wie das Team um Aneta Krogulska im Fachblatt „Eating and Weight Disorders“ schreibt.
Noch ist aber unklar, was hinter ihren akuten Beschwerden steckt. Die Medizinerinnen verabreichen der 13-Jährigen deshalb Antibiotika sowie ein Medikament, das die Vermehrung von Viren hemmt, um mögliche Krankheitserreger schnell zu bekämpfen. Außerdem erhält sie eine Infusion, die unter anderem Natriumchlorid – also Kochsalz – enthält. Das soll ihre Blutwerte wieder in den gesunden Bereich bringen. Zusätzlich geben ihr die Ärztinnen einen Wirkstoff, der die Ausscheidung von Wasser über den Urin fördert.
Das Team sucht weiter nach einer Ursache.
- Eine Computertomografie ihres Kopfes zeigt keine Anzeichen einer Verletzung und auch sonst keine Auffälligkeiten.
- Auch eine Magnetresonanztomografie liefert keinen Hinweis auf die Krankheitsursache.
- Ein toxikologischer Test ergibt, dass die Probleme nicht auf einer Vergiftung beruhen.
- Eine Analyse des Nervenwassers macht eine Infektion in Hirn oder Rückenmark höchst unwahrscheinlich.
Stabil, aber geschwächt
In den folgenden Tagen scheidet die Patientin viel Urin aus, ihr Blutdruck fällt in einen niedrigen Bereich. Die Ärztinnen setzen deshalb das Medikament ab, das die Wasserausscheidung fördert. Am fünften Tag seines Krankenhausaufenthaltes braucht das Mädchen keine künstliche Beatmung mehr. Am siebten Tag haben sich seine Elektrolytwerte deutlich verbessert, Atmung und Herz-Kreislauf-System sind so stabil, dass es von der Intensivstation in die Kinderheilkunde verlegt werden kann.
Die Patientin ist jetzt stabil, aber geschwächt. Die Ärzte klären ab, ob eine Hormonstörung oder ein Nierenleiden ihren Elektrolythaushalt durcheinandergebracht hat, doch entsprechende Tests bestätigten dies nicht.
In einem weiteren Gespräch mit den Eltern berichten diese, dass sie wegen des Gewichtsverlustes ihrer Tochter in Sorge waren. Deshalb hatten sie mit ihr vereinbart, dass sie mindestens 50 Kilogramm wiegen muss, sonst dürfe sie nicht weiter die von ihr geliebten Tanzstunden nehmen. Seit einiger Zeit hätten sie ihr Gewicht einmal pro Woche kontrolliert.
Die Dosis macht das Gift
Jetzt stellt sich heraus: Die 13-Jährige hat vor diesen Wiegeterminen literweise Wasser getrunken, um ihr Gewicht zu erhöhen. Zuletzt waren es vier Liter Wasser – am Tag vor der Einlieferung ins Krankenhaus. Die Jugendliche hatte eine Wasservergiftung.
Auch bei Wasser gilt der alte Spruch, dass die Dosis das Gift macht. In normalem Maß ist Wasser lebenswichtig. Empfohlen wird meist, rund 1,5 Liter Wasser pro Tag zu trinken. Zwei oder drei Liter sind – über den Tag verteilt – überhaupt kein Problem. Wer jedoch binnen weniger Stunden mehrere Liter trinkt, senkt den Natriumspiegel im Blut gefährlich ab, wie es bei der Jugendlichen passiert ist. Hyponatriämie lautet der Fachbegriff für den Zustand, der unter anderem zu gefährlichen Wassereinlagerungen im Hirn führen kann. Schlimmstenfalls kann eine Wasservergiftung sogar zum Tod führen. 2007 starb eine Frau in den USA nach einem Wassertrink-Wettbewerb.
Die 13-Jährige erholt sich von der Hyponatriämie, ihr Elektrolythaushalt normalisiert sich. Das Team entlässt sie aus dem Krankenhaus – mit einer Überweisung für eine psychiatrische Einschätzung.
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