Schweiz: Die Wirtschaft boomt zwar, aber die Impfrate ist die niedrigste in Westeuropa – ein Spiel mit dem Feuer?

Der Schweiz geht es super. Zumindest wirtschaftlich. Die Wirtschaftsnachrichtenagentur "Bloomberg" listet das Alpenland in einer Rangliste der erfolgreichsten Staaten im Umgang mit der Pandemie auf Platz zwei. Besser macht es demnach nur Norwegen. Das vermeintliche Erfolgsrezept: milde Corona-Maßnahmen. Keine Ausgangssperre, Hotels und Skigebiete blieben offen, die Schulen waren nur kurz geschlossen und eine Testpflicht für Einkäufe oder Restaurantbesuche gibt es nicht. Die Wirtschaft dankte. Aber der relativ laxe Umgang mit dem Virus kam nicht ohne Preis. Für das Mehr an Freiheit nahmen die Schweizer höhere Infektionszahlen, mehr Corona-Patienten auf Intensivstationen und mehr Todesfälle in Kauf. 

So mussten dort während der ersten und zweiten Welle mehr als doppelt so viele Corona-Infizierte im Krankenhaus behandelt werden als in Deutschland (bei Bloomberg übrigens auf Rang zwölf gelistet). Laut Angaben der wissenschaftlichen Taskforce kam es zu einer "informellen Triage", es wurde also abgewogen, welcher Patient ein Intensivbett bekam und welcher nicht. "Von einer solchen Situation dürften am Höhepunkt der zweiten Welle ungefähr zwölf Prozent aller Patienten betroffen gewesen sein", schrieb die Taskforce. "Die zweite Welle Ende letzten, Anfang diesen Jahres hat die Schweiz nicht gut gemeistert", sagte Jan-Egbert Sturm, Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Eliteuniversität ETH in Zürich, der Deutschen Presse-Agentur. Die Schweiz habe zu spät reagiert, die Geschäfte etwa erst kurz vor Weihnachten geschlossen. Natürlich hätte man bei früherem Schließen Umsätze eingebüßt, aber das hätte Menschenleben gerettet.

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Mut zur Lücke

Die strategische Ausrichtung des vermeintlichen Corona-Musterschülers beweist auch an anderer Stelle Mut zur Lücke. Die Impfrate ist im europäischen Vergleich mickrig. Derzeit sind gerade einmal rund 55 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Damit liegt die Schweiz nicht nur unter dem EU-weiten Schnitt von 60 Prozent, sondern liefert auch den schlechtesten Wert in ganz Süd-, West- und Nordeuropa, wie der "Tagesanzeiger" herausgearbeitet hat. Zum Vergleich: Spitzenreiter Malta meldet laut "Our World in Data" aktuell eine Rate von 91 Prozent, gefolgt von Island mit 79,3 und Dänemark mit 73,3 Prozent. In Deutschland sind inzwischen 62,1 Prozent mindestens einmal geimpft. Nur in den östlichen Teilen Europas geht’s noch langsamer voran. 

Und: Die Impfmotivation der Schweizer nimmt, das zeigt ein Blick auf die Zahlen, mehr und mehr ab. Mitte Juni wurden einmal 92.000 Impfstoffdosen an einem Tag verimpft, das war Rekord. Danach der Absturz. Derzeit werden gerade mal noch gut 20.000 Spritzen täglich gesetzt. Zeitgleich aber ist schon jetzt die Inzidenz hoch, mehr als dreimal so hoch wie in Deutschland. Das spiegelt sich auch in den Krankenhauszahlen mit dreimal so vielen Corona-Patienten wider.

Doch während andere Länder händeringend nach Lösungen suchen, die Bevölkerung von den Impfungen zu überzeugen, und etwa ordentlich die Werbetrommel rühren, hält sich die Schweizer Regierung vornehm zurück. Eigenverantwortung ist die Devise. Druck will man keinen aufbauen – auch nicht in Blick auf die Delta-Variante des Virus, die sich aktuell in Europa ausbreitet. "Das Impfangebot steht für sich selbst. Jeder und jede tut seiner oder ihrer eigenen Gesundheit etwas zuliebe mit der Impfung. Da muss man eigentlich nicht noch eine Schoggi dazu abgeben", zitiert der "Tagesanzeiger" Lukas Engelberger, den Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz. Aber reicht das?

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Vierte Welle könnte heftig werden

Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes glaubt das nicht. Die Wissenschaftler sorgen sich hinsichtlich der aktuellen Pandemielage, dass die niedrige Impfquote in den kommenden Wochen und Monaten zum Problem werden und zu einer Überlastung des Gesundheitswesens führen könnte. Sie befürchten, dass bei einer nächsten Welle die Zahl der Infizierten auf einen neuen Pandemiehöchststand klettern könnte. Und bringen in einem aktuellen Briefing eben doch Anreize wie eine Lotterie ins Spiel, um die Corona-Impfung attraktiver zu machen.

Um in der Schweiz eine vierte Welle im Herbst abzuwenden, müsse eine Durchimpfungsquote von 80 Prozent angestrebt werden, sagte Urs Karrer, Vizepräsident der wissenschaftlichen Corona-Taskforce schon Ende Juni zur "NZZ am Sonntag". Er rechne damit, das sich mangels Eindämmungsmaßnahmen "wohl mehr als 60 Prozent der nicht geimpften Personen mit dem Coronavirus infizieren würden". Es brauche, sagte er schon zu diesem Zeitpunkt, einen erneuten "Ruck" in der Bevölkerung.

Hotspot Florida mit vergleichbarer Impfrate

An anderen Orten kann bereits beobachtet werden, was passieren kann, wenn das Virus auf einen hohen Prozentsatz Ungeimpfter trifft. Mit 55 Prozent Impfrate liegt die Schweiz drei Prozentpunkte unter der von Florida. Der Bundesstaat entwickelt sich aktuell zu dem Corona-Hotspot in den USA. Am Dienstag meldete das US-Gesundheitsministerium so viele Neuninfektionen wie nie zuvor und mehr als 11.500 Menschen, die so schwer an dem Virus erkrankt sind, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Auch in Staaten mit höherer Impfrate steigen die Infektionszahlen wieder an, aber längst nicht so rapide. "Das bleibt eine Pandemie der Ungeimpften, die überwältigend größte Verbreitung ist bei den Menschen, die nicht geimpft sind. Dort wo es mehr Geimpfte gibt, gibt es auch weniger Fälle", sagte Rochelle Walensky, die Chefin der obersten US-Seuchenbehörde CDC.

Die USA hat daher zuletzt den Druck auf die ungeimpfte Bevölkerung erhöht. Angestellte der Bundesregierung müssen inzwischen ihren Impfstatus offenlegen. Ungeimpfte müssen sich testen lassen, Masken tragen und Abstand halten. Universitäten und Krankenhausgesellschaften, Walmart, Google und andere führten eine Impfpflicht ein.


Quelle: Tagesanzeiger, NZZ, Our World in Data, Tagesschau, Dpa

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