Finanzierung ist für Rechenzentren wichtiger als Marketing
Noventi wechselt seine Vorstände und seine Unternehmensstrategie. Auf der Suche nach den Gründen hat DAZ-Wirtschaftsexperte Dr. Thomas Müller-Bohn die Bilanz des Unternehmens näher betrachtet. Angesichts der großen Geldbeträge, die Noventi bewegt, dürften die Kapitalmarktzinsen eine ausschlaggebende Wirkung haben, die das jüngste Geschehen verständlich macht.
Für einen Moment hat Noventi den Markt verblüfft. Der Marktführer unter den Rechenzentren kündigte Preiserhöhungen für seine wesentlichen Leistungen an – und das wenige Tage vor der Expopharm, also vor der besten Gelegenheit für die Kunden, sich nach einem anderen Rechenzentrum umzusehen. Da musste der Kurs offenbar ganz dringend korrigiert werden.
Die Erklärung folgte umgehend. Der bisherige Vorstandsvorsitzende Sommer und Vorstand Castro mussten das Unternehmen verlassen. Die Pressemitteilung war bemerkenswert deutlich: „Der Aufsichtsrat sah sich insbesondere wegen unüberbrückbarer Differenzen bei Unternehmensführung und -strategie zu einer Neuordnung des Vorstandes veranlasst.“ Hohe Kostensteigerungen, Inflation und die konjunkturelle Entwicklung würden „unverzüglich eine Fokussierung auf das stabile und gesunde Kerngeschäft“ und „auf ausgewählte Zukunftsprojekte“ erfordern, erklärte der Aufsichtsratsvorsitzende Herbert Pfennig.
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Jeder Beobachter kann sich leicht vorstellen, was damit gemeint ist. Noventi hat jahrelang enorm viel Geld ausgegeben für ein gewaltiges Marketing, das weit über dem Niveau der Wettbewerber lag, und für vielfältige Geschäftsfelder neben dem Abrechnungsgeschäft. Wozu das Sponsoring für ein ATP-Tennisturnier? Sogar beim Papst wurde Noventi vorstellig. Sollte das die Apotheker beeindrucken, die selbst in ihren Apotheken unter größtem Kostendruck arbeiten und jede Investition genau hinterfragen (müssen)? Hat eine solche Großspurigkeit die wichtigste Kundengruppe nicht eher abgeschreckt?
Doch Noventi wollte wachsen. Dass Noventi wie andere Rechenzentren die AvP-geschädigten Apotheken schnell aufgenommen hat, war wichtig und richtig. Doch war es nötig, andere Rechenzentren bei den Konditionen für diese Neukunden zu unterbieten? Angesichts der jüngsten Entwicklung erscheint das fraglich. Noventi selbst begegnet allen Fragen mit einer deutlichen Botschaft, die aus der Pressemitteilung zu erkennen ist: Die Unternehmensstrategie muss geändert werden, aber das Kerngeschäft ist solide. Spekulationen, die ein noch größeres Problem bei Noventi vermuten, soll damit der Wind aus den Segeln genommen werden.
Was sagt der Gewinn aus?
In dieser Analyse soll versucht werden, diese Botschaft anhand der Geschäftszahlen zu überprüfen. Der vorige veröffentlichte Geschäftsbericht bezieht sich auf das Kalenderjahr 2021. Im Jahr 2021 setzte der Konzern 235,5 Millionen Euro um und damit stolze 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Gewinn- und Verlustrechnung weist für 2021 einen Konzernüberschuss von 7,1 Millionen Euro aus. Nach 1,7 Millionen Euro Überschuss im Vorjahr erscheint dies beeindruckend.
Allerdings kommt der Überschuss unter anderem durch aktivierte Eigenleistungen von 16,8 Millionen Euro zustande. Das kann beispielsweise selbstentwickelte Software sein. Offenbar wurde also eine erhebliche Position in der Gewinn- und Verlustrechnung nicht im Geschäft mit den Kunden erwirtschaftet. Damit sagt der Konzernüberschuss wenig darüber aus, wie rentabel das laufende Geschäft ist.
Bilanz wie eine Bank
Der nächste Blick richtet sich auf die Bilanz. Die Bilanz der Noventi Health SE weist ein Eigenkapital von 90,8 Millionen Euro auf, darunter 45 Millionen Euro gezeichnetes Kapital der Eigentümer. Ohne Einbeziehung des Factorings mit den Abrechnungsgeldern ergibt sich eine Bilanzsumme von 246,1 Millionen Euro und damit eine solide Eigenkapitalquote von etwa 37 Prozent. Ein solches Unternehmen könnte auch Verluste verdauen. Die Kapitalrücklage beträgt stattliche 42,6 Millionen Euro. Doch das Bild ändert sich mit dem Blick auf die Bilanz des gesamten Konzerns einschließlich des Factorings. In der Bilanz für 2021 stellt Noventi die Abrechnungsgelder erstmals als Factoringgeschäfte innerhalb der Konzernbilanz dar. Damit ändert sich zwar nicht das Geschäft, aber der Blick darauf. Die Bilanz des Konzerns wird dadurch vom Factoring dominiert und die Bilanzsumme wächst auf gewaltige 1.178,5 Millionen Euro.
In dieser Betrachtung wirkt das Eigenkapital nun nicht mehr üppig. In der Konzernbilanz für 2021 sind es 84,1 Millionen Euro, also 7,1 Prozent der Bilanzsumme. Der Maßstab sind nicht mehr Industrie- oder Handelsunternehmen, sondern Banken, obwohl Rechenzentren keine Banklizenz haben und auch keine Banken sein wollen. Erleichternd kommt der besondere Hintergrund hinzu, der Apothekern sehr bewusst ist. Es geht hier um sehr sichere Forderungen gegen die GKV. Auch die Finanzierung von Apotheken beruht auf der Solidität dieser Forderungen. Also alles halb so schlimm? Egal, wie sicher die Forderungen sind, denken Banker daran, dass die Bundesbank als harte Kernkapitalquote mindestens 4,5 Prozent fordert, um das Geld der Kunden zu sichern. Auch wenn Rechenzentren keine Banken sind, bleibt das eine Orientierungsgröße, die ein Aufsichtsrat im Blick behalten muss.
Finanzierung als Schlüssel zum Erfolg
Unabhängig von der Bilanzierungsmethode ist das Zwischenfazit aus diesen Überlegungen: Noventi bewegt im Vergleich zur eigenen Größe enorme Geldbeträge und darum ist die Finanzierung der Schlüssel für den Erfolg des Geschäfts. Das erklärt wohl, weshalb jetzt ein Finanzexperte an die Unternehmensspitze rückt.
Außerdem kommen damit die Zinsen ins Spiel und der Blick schwenkt zurück auf die Gewinn- und Verlustrechnung von 2021. Darin werden für „Zinsen und ähnliche Aufwendungen“ 6,1 Millionen Euro ausgewiesen, im Vorjahr waren es 4,8 Millionen Euro. In einer Zeit, in der die Zentralbanken Negativzinsen abgerechnet haben, erscheint das überraschend viel. In der Bilanz zum Jahresultimo 2021 werden 928,6 Millionen Euro Factoring-Verbindlichkeiten ausgewiesen, denen entsprechende Forderungen gegenüberstehen. Das passt zusammen, aber so viel Geld muss erst einmal finanziert werden, wenn Zeiten zwischen Ein- und Auszahlungen zu überbrücken sind. Würde sich die Zinsabrechnung bei einem solchen Betrag um einen Prozentpunkt verändern, ginge es bei einer Finanzierung über ein Jahr um 9 Millionen Euro. Das ist viel mehr als das Unternehmen üblicherweise in einem Jahr verdient.
Zwar geht es bei der Apothekenabrechnung jeweils nur um Zwischenfinanzierungen für einige Tage, aber schon das Bereitstellen einer so hohen Kreditlinie dürfte einiges Geld kosten. Es bleibt für Noventi zu hoffen, dass das Unternehmen dabei zukunftssicher verhandelt hat. Doch das Ergebnis ist deutlich: Der Zins kann großen Einfluss auf das Geschäft haben, jedenfalls sobald neue Vereinbarungen nötig werden. Im Risikobericht zum Geschäftsabschluss für 2021 heißt es, Noventi gehe von einer „moderaten Erhöhung der Leitzinsen durch die Europäische Zentralbank aus“. Doch die Zinsängste sind derzeit ein Hauptgrund für die sehr volatile und oft schwache Entwicklung an den Aktienbörsen. Die Unsicherheit ist also in der gesamten Wirtschaft groß. Es liegt nahe, dass ein Unternehmen, das so große Geldbeträge bewegt wie Noventi, jetzt Vorsicht walten lassen muss. Das dürfte der entscheidende Grund sein, warum gerade jetzt die Kehrtwende erfolgt. Es erscheint konsequent, jetzt auf übertriebenes Marketing und weitere Expansion zu verzichten. Die Finanzierung ist wichtiger als das Marketing.
Fazit: Abrechnen ist wichtiger als Vorfinanzieren
Natürlich stellen jetzt einige die Frage, was passieren kann, falls die weitere Entwicklung gegen Noventi läuft. Die Antwort liegt in der obigen Analyse. Der Zins ist der entscheidende Faktor – und das gilt nicht allein für Noventi. Wenn die Zinsen steigen, werden Rechenzentren den Apotheken bei den Vorfinanzierungen weniger bieten können. Apotheken müssen sich dann an ihre Banken wenden, denn die sind dafür zuständig. Für einige Apotheken mag das schmerzlich sein, aber es unterstreicht einmal mehr, wie dringend Apotheken endlich eine marktgerechte Honorierung brauchen. Rechenzentren können die Lücke nicht füllen. Sie sind keine Banken, sondern wichtige Akteure im komplexen System der Sozialversicherung. Das ist ihre eigentliche Aufgabe und die derzeitige Entwicklung am Kapitalmarkt ruft uns das in Erinnerung. Auch hier gilt: Schuster, bleib bei deinen Leisten.
Und um auch diese Frage anzusprechen: Das ist keine Parallele zu AvP. Der Insolvenzverwalter von AvP hat in seinen Berichten mehrere Hinweise auf betrügerische Vorgehensweisen bei AvP formuliert. Gerade nach der AvP-Insolvenz haben wohl alle Rechenzentren noch mehr auf die Sicherheit geachtet. Es geht also hier nicht um die Sicherheit der Abrechnungsgelder, sondern um die Rentabilität eines Rechenzentrums, das sein Geschäft an den harten Markt anpassen und hochfliegende Träume beenden muss.
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