Dieter ist sterbenskrank. Sein letzter Wunsch: Noch einmal den Fischmarkt sehen
Es ist früher Sonntagmorgen in Hamburg, die Sonne ist gerade aufgegangen. Noch ist es frisch, aber nicht so, dass man friert. Direkt an Elbe sind trotz der frühen Stunden schon Menschenmassen unterwegs, denn es ist Fischmarkt. Vor einem der Lkw, aus dem Pflanzen verkauft werden, steht ein älterer, dünner Mann mit grauen Haaren, der das bunte Treiben still verfolgt. Um ihn herum preisen Händler ihre Waren an, Touristen bummeln zwischen den Ständen und Feierwütige suchen nach einer durchzechten Nacht etwas zu essen. Aus der Fischauktionshalle schallt Rockmusik.
Dieser Mann ist Dieter. Noch einmal den Fischmarkt in Hamburg sehen, das ist einer der letzten Wünsche des 57-Jährigen. Denn Dieter ist todkrank. Er hat Krebs, drei Tumore wuchern in seinen Körper, erzählt der wortkarge Mann. Seit ungefähr einem Jahr weiß er von seiner Krankheit. Bemerkt hat er sie, weil er „nicht mehr auf Toilette gehen konnte, weil der Krebs meinen Darm eingedrückt hat“, sagt er. Dieter ist von seiner Krankheit gezeichnet, seine schmalen Schultern hängen, er hat Male im Gesicht und auf den Händen.
Dieter wird von Melanie Meyer im Rollstuhl geschoben. Mit dabei ist Frank Lindenthal (r.)
Ambulance-Service-Nord ermöglicht letzte Wünsche
Angekommen ist Dieter im Rollstuhl. Geschoben wird er von Melanie Meyer, auch Mel genannt. Die 50-Jährige wird von Frank „Lindi“ Lindenthal, 49, begleitet. Beiden machen solche Ausfahrt neben ihrem Beruf. Frank arbeitet eigentlich als Fahrer für eine Bäckerei, heute fährt er Dieter. Geld bekommt er dafür nicht, „Lindi“ und Mel tun das ehrenamtlich.
Dieter ist alleinstehend, lebt in Nienburg in einer Wohnung. Doch er hat jemanden, der ihn bei diesem Ausflug begleitet, seinen „Kumpel“ Siegfried. Der 58-Jährige sagt, „einer muss ja auf ihn aufpassen“. Gekommen sind die vier in einem umgebauten Krankenwagen des Ambulance-Service-Nord e.V.; „‚Sternenfahrten‘ – wir erfüllen letzte Wünsche“ steht darauf.
Auf dem Krankenwagen des ASN steht: „Sternenfahrten – wir erfüllen letzte Wünsche“
Den Verein aus Niedersachsen gibt es seit 20 Jahren, er bietet seine Dienste im Raum Verden und Diepholz sowie Umgebung an. Die Mission: Sterbenden einen letzten Wünsch erfüllen und ihn dorthin bringen. Es gibt Kontakte zu Piloten, die Flüge anbieten, zu Bauunternehmern, falls einer der Fahrgäste noch mal Lust hat, mit schwerem Gerät zu baggern. Man hat spezielle Tragen angeschafft, wenn die Fahrgäste noch mal ans Meer oder ins Watt an der Nordsee oder in den Wald wollen, um sich einen Baum auszusuchen.
Mel und Lindi sind schon seit Jahren dabei, haben diverse Sternenfahrten begleitet. „Ich fühl mich sehr wohl dabei. Denn ich sag mir, ich hab eine sinnvolle Sache gemacht. Es gibt diese Dankbarkeit, das ist einfach so“, sagt Frank Lindenthal. „Das zu wissen, ist schon eine richtige Motivation. Heute ist es Dieter, den die beiden begleiten. Zum Fischmarkt wollte er, weil er die Hamburger Attraktion noch nie gesehen hat. „Ich wollte einfach mal wissen, was auf dem Fischmarkt so los ist“, erzählt er. Wie es sich für ihn anfühlt, jetzt hier sein zu können? „Gut, gut“, antwortet er knapp, er freue sich, hier zu sein. „Ist mal wieder was, was man nicht kennt.“
Auf einem der Fischmarkt-LKW wuchern üppige Palmen und Orchideen auf den Ladeflächen. Es sieht aus, wie in ein Dschungel im Kleinformat. Ein älterer Herr steht mitten in dem Grün und brüllt seine Preise in die Menschentraube, die sich vor ihm gebildet hat, die das ganze staunend und lachend verfolgt. Der Schriftzug auf dem Lastwagen verrät, dass es sich um den „holländischen Blumenkönig“ handelt. Der Verkauf läuft, der Absatz ist gut.
Viele genießen die Sternenfahrten
Mel schiebt Dieter etwas näher heran. Er sieht sich um, er möchte zum Blumenkönig. Seine Begleiter helfen ihm langsam aus dem Rollstuhl hoch. Zuerst steht Dieter etwas unsicher auf dem Pflaster, geht dann aber mit wackeligen Schritten nach vorn, an den Menschen vorbei und steht schließlich vor dem Dschungel-Lkw. Der Verkäufer über ihm brüllt weiter in die Menge, schreit die Menschen regelrecht an. Dieter schaut ein paar Minuten interessiert zu, neben ihn werden die Pflanzen, Stauden und Blumen im Minutentakt an die Männer und Frauen gebracht. Er selbst kauft nicht. Noch nicht.
Dieter (l.) schaut sich den Blumenverkaufsstand an
Es geht nicht immer zum Fischmarkt. Die Sternenfahrten führen Melanie und Frank, ihre Kollegen und die Fahrgäste, man möchte bei diesen Ausflügen nicht von Patienten sprechen, an die verschiedensten Orte zu unterschiedlichsten Anlässen. Mal ist es eine Familie, die man in den Freizeitpark fährt, mal eine alte Dame, die noch einmal den Hof sehen will, auf dem sie früher gelebt hat. Auch wenn die Schicksale der Fahrgäste traurig und bewegend sind, verlaufen die Fahrten meist fröhlich, erzählt Frank. Fast alle genießen den Tag, auch die Helfer: „Weil man genau weiß, die leben nicht mehr lange, das ist ja nun mal Fakt. Dass man den Menschen einfach noch mal etwas Gutes tun kann, erfüllt mich mit Freude. Dadurch bin ich relativ entspannt bei solchen Sachen“, berichtet Melanie.
Frank Wenzlow initiierte die Sternenfahrten
Dass es die Sternenfahrten gibt, ist Frank Wenzlow, 58, zu verdanken. „Das kam eigentlich durch die Geschichte mit meiner sterbenden Frau“, sagt er. Er gründete mit ehrenamtlichen Helfern den Ambulance-Service-Nord. Zu Beginn waren sie acht Leute, nun ist es ein Stamm von 26 Ehrenamtlichen. Die Sternenfahrten kamen 2015 hinzu.
Frank Wenzlow
„Das Verfluchte war, sie war eigentlich kerngesund. Sie hat nie geraucht, selten Alkohol getrunken, ist jeden Tag Rad gefahren“, erzählt Wenzlow über seine Frau. Nach einer Routineuntersuchung erhielt sie die Diagnose, dass sie einen hochaggressiven Gebärmutterhalskrebs hatte. „Dieser Krebs ist dann bekämpft worden. Das Ganze war eine zweijährige Geschichte, in der sie vier Mal operiert werden musste. Die Milz musste entfernt werden und Teile des Darms, weil dieses Mistding dermaßen gestreut hat.“ Nach der letzten Operation dann die traurige Nachricht: Es hatten sich inoperable Metastasen an den Blutgefäßen gebildet. „So musste sie letztendlich im Alter von 38 Jahren sterben“, erzählt Wenzlow. Ein Foto von ihr an der Seite des ASN-Wagens erinnert an sie.
Ein Bild erinnert an Katrin Lisbeth Wenzlow, Frank Wenzlows verstorbene Frau
„Als sie im Sterben lag, haben wir gesagt, wir wollen diesem Tod anders begegnen, weil wir auch anders gelebt haben als viele andere. Wir haben beschlossen, einen Abschiedsbrunch auf der Nordsee zu machen.“ Doch so einfach war das nicht, denn das Gesundheitssystem zahlt solche Ausflüge nicht. „Das hat mich damals richtig wütend gemacht“, sagt Wenzlow. Und er rief die Sternenfahrten ins Leben.
Über die letzten Wünsche und Gedanken von Sterbenden und auch über Frank Wenzlow und die Sternenfahrten des Ambulance-Service-Nord gibt es ein Buch: „Letzte Wünsche“ von Alexander Krützfeld
„Fast 80 Prozent der Fahrten finden gar nicht mehr statt“
„In der Rettungsmedizin lernt man das Retten auf Teufel komm raus, egal was es kostet, egal was dahintersteckt. Aber in der Palliativmedizin muss man sich darüber im Klaren sein: Das sind Menschen, die sterben, die sind austherapiert“, erzählt Wenzlow. Die Fahrten würden den Sterbenden in ihren letzten Tagen nochmal schöne Gefühle geben. „Die allermeisten reagieren sehr, sehr positiv. Es ist extrem selten, dass jemand hinterher sagt ‚Ach, hätte ich mir das mal geschenkt und lieber doch nicht gemacht‘. Das haben wir in der ganzen Zeit bisher nur einmal erlebt.“
Medizinisch notwendig sind diese Fahrten sicherlich nicht. Sie sind viel mehr. „Es ist nicht der Rettungsdienst, bei dem man dafür sorgen muss, dass die Gesundheit zurückkommt. Wir wissen einfach, dass diese Menschen… „, so Frank Lindenthal und setzt neu an: „Sie haben nur ihre letzten Tage, ihre letzten Monate, wenn’s gut geht.“
Dabei spiele es keine Rolle, ob man arm oder reich sei, man hinterfrage weder finanzielles noch Lebensläufe, sagt Wenzlow: „Der Kranke steht in Kürze vor seinem Schöpfer und hat sich da zu verantworten. Nicht vor mir. Ich glaube, es ist gerade für diese Menschen wichtig zu merken, dass es da keine Unterschiede gibt. Man bekommt einfach das, was einem zusteht.“ Genauso hat man bei Dieter solche Fragen nicht gestellt, der früher Wohnungslos war.
Dieter nimmt einen Schluck von seiner Limonade
Dieter friert. „Das ist die Chemo“
Dieter ist inzwischen mit den anderen drei Sternenfahrern bei einem alten Citroën-Lkw angekommen, der zu einer mobilen Kaffeebar umgebaut wurde. Hier machen sie eine kleine Pause. Mel stellt sich in die Schlange, die sich vor dem Verkaufsfenster gebildet hat. Sie holt Kaffee, Cola und Limo. Dieter steht neben dem Citroën, sitzt nicht mehr im Rollstuhl. Er steckt sich eine selbstgedrehte Zigarette an, auf die es in seiner Situation auch nicht mehr ankommt. Doch richtig fit ist Dieter nicht, er hustet und friert. „Das ist die Chemo“, sagt er. Dieter wird bei sich zu Hause ambulant betreut, von Pflegedienst, Palliativmedizinern und Hospizmitarbeitern. Nach ein paar Minuten Pause geht es weiter. Wortwörtlich. Denn Dieter geht selbst. Er bewegt sich durch die Menschenströme, läuft vorbei an Ständen mit typischen Hamburg-Souvenirs.
Dann kommt die Gruppe zu „Fisch Jahnke“. Ein rundlicher Mann mit blau gestreifter Schürze steht oben auf dem Verkaufswagen und brüllt – wie so viele Händler auf dem Fischmarkt – seine Preise und Angebote mit ein paar flotten Sprüchen in die Menschentraube vor seinem Wagen. In seiner Theke liegen geräucherte Aale und weitere Fische. Dieter stellt sich direkt vor den Wagen und blickt zu ihm hoch. „Was kosten vier Aale?“, möchte er wissen. „Zwanzig Euro“, erwidert der Verkäufer. Nach einer kurzen Verhandlung willigt Dieter ein. Während der Fischhändler die Aale in eine Plastiktüte packt, kramt Dieter langsam sein Portemonnaie hervor, auf dem das Bayern-München-Logo zu sehen ist. Er zieht einen 50-Euro-Schein heraus und bezahlt. Der Fischverkäufer reicht ihm die Tüte – und legt dann noch einen Fisch dazu.
Dieter kauft sich Aale – und den Fisch gibt’s oben drauf!
Dieter trägt seine Tüte zu seinem Rollstuhl und legt sie auf den Sitz: Von nun an werden die Fische von Mel geschoben. Dieter läuft weiter, immer selbstständiger und mit festerem Schritt.
Später kommt zu den Aalen und dem Fisch noch eine Tüte Pasta hinzu. Spaghetti, Bandnudeln und weitere Sorten liegen jetzt ebenfalls auf dem Rollstuhl und werden von Melanie transportiert, die scherzhaft fragt, ob Dieter Nudeln mit Aal kochen wolle.
Bier zum Frühstück
Es ist mittlerweile nach sieben Uhr. Dieter möchte in eine kleine Eckkneipe, etwas trinken. Von der Decke baumeln Metalllampen, an den Wänden hängen Bilder von Schiffen. Ein Mann spielt in einer Ecke auf einem Keyboard typisch hamburgische Songs: „La Paloma“, „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ und „Hamburg, meine Perle“. Die kleine Reisegruppe setzt sich an einen Ecktisch und bestellt: Cola für Melanie und Frank, Siegfried und Dieter finden, dass sie schon ein Bier vertragen können. Aber die beiden sind nicht die Einzigen, die zu dieser Uhrzeit Promillehaltiges zu sich nehmen. So ist das eben, früh morgens auf dem Fischmarkt.
Melanie, Siegfried, Dieter und Frank (v.l.n.r.) sitzen gemeinsam in der Kneipe und unterhalten sich
Nach dem dritten Bier erinnert Melanie daran, dass Dieter noch eine Blume kaufen wollte. Er müssen sich beeilen, sonst sei der Stand zu. „Davon sterb ich auch nicht mehr“, antwortet Dieter. Also geht es zurück zum „holländischen Blumenkönig“. Dieter geht nach vorne und kauft nicht nur eine Blume. Er kauft einen ganzen Karton mit Pflanzen. Eine Blume, Stauden und Palmen – alles für sein Zuhause, um Leben in die Bude zu bringen. Hinter dem ganzen Grünzeug verschwindet Frank, der den Karton auf den Sitz des Rollstuhls wuchtet. Zu viert, mit Topfpflanzen im Rolli, gehen sie zurück zum Krankenwagen, mit dem sie hergekommen sind. „Es gibt keine typische Sternenfahrt. Jede entwickelt sich anders“, erzählt Frank.
Dieter hat sich einen Karton Pflanzen gekauft. Frank trägt sie für ihn
Gelöst und locker, ja fröhlich wegen dieses gelungenen Ausfluges, kommen die vier am Wagen an. Frank und Melanie packen die Aale, Nudeln und Pflanzen in den Wagen. Und wie war es für Dieter? „Gut. Schön“, zieht er Bilanz. Was ihm am besten gefallen hat? „Die Kneipe.“ Er sagt, dass er jetzt mit einem guten Gefühl nach Hause fährt und positiver nach vorne sieht: „Ich nehm das alles nicht so ernst mit meinen Tumoren.“ Vielleicht keine so schlechte Einstellung.
Mehr über den Ambulance-Service-Nord e.V. erfahren Sie auf ihrer Internetseite: www.asnev.net
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