278.000 Virus-Tote in Deutschland? Wie der Top-Virologe seine Zahl meint

Der Chef-Virologe der Charité hält es für möglich, dass in Deutschland langfristig eine Viertelmillion Menschen am Coronavirus sterben werden. Auch Andreas Gassen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geht von einer „Durchseuchung“ der Gesellschaft aus. Bedrohlich sei das jedoch nicht.

Das Virus werde sich erst dann nicht weiter verbreiten, wenn zwei von drei Menschen zumindest vorübergehend immun seien, weil sie die Infektion schon hinter sich hätten, sagte Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité, im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

"Bei einer Gesamtbevölkerung von 83 Millionen wären zwei Drittel fast 56 Millionen Menschen, die sich infizieren müssten, um die Ausbreitung zu stoppen. Bei einer Mortalität von 0,5 Prozent wäre in dem Fall mit 278.000 Corona-Todesopfern zu rechnen", erklärte Drosten.

Solch eine Berechnung mache allerdings "wenig Sinn", weil die Zeitkomponente fehle, erklärte Drosten weiter. "Bei langsamer Verbreitung werden Corona-Opfer in der normalen Todesrate verschwinden." Jedes Jahr würden in Deutschland 850.000 Menschen sterben. Das Altersprofil sei ähnlich wie bei den Todesfällen durch das neue Virus.

Mit einem für alle verfügbaren Impfstoff gegen das Coronavirus rechnet Dorsten "nicht vor Sommer nächsten Jahres".

"Das mag schockierend wirken, ist aber nichts Bedrohliches"

Auch Kassenarztpräsident Andreas Gassen geht davon aus, dass sich ein Großteil der Bevölkerung anstecken wird, bevor die Ausbreitung zu einem wirklichen Halt kommt.

"Das mag für den Laien schockierend wirken, ist aber nüchtern betrachtet nichts Bedrohliches: Es gibt Viren, die praktisch jeden mindestens einmal befallen. Zum Beispiel Herpes und Influenza", sagte der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) der "NOZ". Man spreche in dem Fall von einer "Durchseuchung" der Gesellschaft, die dann letztlich zu einer Art Herden-Immunität führe.

"Auch das Coronavirus dürfte nicht verschwinden", sagte Gassen. Die Frage sei, wie lange die "Durchseuchung" dauere. "Das kann vier oder fünf Jahre dauern. Je schneller es geht, je größer ist die Herausforderung für das Gesundheitswesen. Aber dass wir selbst bei einem weiteren raschen Anstieg der Fälle an Grenzen stoßen, sehe ich definitiv nicht." Derzeit sei Corona "eher eine mediale als eine medizinisch relevante Infektion", so Gassen.

Drosten: "Großveranstaltungen sollten abgesagt werden"

Virologe Drosten forderte zur Eindämmung des Virus ein Verbot von Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern. "Die Schweizer sagen alle Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen ab. Eine solche bindende Obergrenze wäre auch für Deutschland extrem hilfreich", das würde auch den Veranstaltern Rechtssicherheit geben, sagte der Forscher. "Volle Stadien mit Zehntausenden von Fans – gerade in Gegenden wie dem vom Coronavirus jetzt stark betroffenen Rheinland – müssten aus medizinischer Sicht eigentlich gestoppt werden", mahnte Drosten.

Für bundesweite Schulschließungen ist die Zeit aus Sicht des Charité-Experten noch nicht gekommen: "Die Idee ist gut. Aber das ist eine Maßnahme, die wir der Gesellschaft nur einmal zumuten können", so der Virologe. "Wir sollten diese Karte aufbewahren, damit wir sie im Herbst ziehen können, oder im Juni, wenn uns das Virus keine 'Sommerpause' beschert. Jetzt wäre es wohl noch zu früh."

Drosten befürchtet, dass eine rasante Ausbreitung in Deutschland nicht mehr verhindert werden könne. "Wir stoßen an Grenzen. Die Sorge ist berechtigt, dass wir das Coronavirus nicht in den Griff bekommen und am Beginn einer pandemischen Welle stehen", sagte er. Die Lage sei für die Gesundheitsämter mancherorts sehr schwierig.

"Wir bekommen Rückmeldungen, wonach die Mitarbeiter kapitulieren. Sie sind personell nicht mehr in der Lage, die notwendigen Kontrollen durchzuführen. Kontaktpersonen werden nicht gleich getestet. Bei Menschen in Quarantäne wird nicht geprüft, ob sie wirklich zu Hause bleiben. Die Gesundheitsämter kommen nicht mehr hinterher."

Es bestehen weiterhin Unsicherheiten beim Thema Corona

Erst kürzlich hatte Christian Drosten bei der Bundespressekonferenz den aktuellen wissenschaftlichen Stand in Deutschland eingeordnet. Man kenne das Virus einfach noch nicht gut genug, erklärte der Virologe von der Charité. Und deshalb könnten sich Einschätzungen auch in kurzer Zeit wieder ändern. Wichtig seien für die Beurteilung einer Krankheit vor allem drei Dinge:

  • Fallsterblichkeit
  • Geschwindigkeit der Ausbreitung
  • Dauer einer möglichen Pandemie/Epidemie

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Fallsterblichkeit bei Corona

Diese liege derzeit zwischen 0,3 und 0,7 Prozent, sagt Drosten, der damit anderen Rechnungen widerspricht, die von mehr als zwei Prozent ausgehen.

"In den sozialen Medien wird hierzu viel Drama gemacht. Und es gibt auch viele Bestrebungen, Drama zu machen." So gebe es inzwischen auch Unternehmen, die Profit aus den Zahlen schlagen wollten und gezielt hohe Sterblichkeitsraten streuen würden, so Drosten. "Ich finde nicht gut, wenn man die Fallzahlen nicht korrekt betrachte." Viele würden so rechnen, dass die neu erkrankten ja in zwei Wochen alle noch sterben könnten und damit die Rate deutlich steigen könnte. Aber dies sei keine seriöse Art der Berechnung.

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Geschwindigkeit der Ausbreitung

Eine wichtige Kennziffer für eine Pandemie oder Epidemie sei, wie schnell sich die Krankheit ausbreite. Dies hätte den "höchsten Informationswert", sei hier aber auch am "allerschwersten zu schätzen", so Drosten. Die Frage sei, wie viele Menschen sich infizieren, die mit einem Kranken in Kontakt kommen. "Die aktuellen Zahlen liegen hier bei 5 bis 10 Prozent", erklärt der Virologe.

Das liege unter der Verbreitungsgeschwindigkeit von Influenza-Pandemien – wobei damit "nicht die saisonale Grippe" gemeint sei. "Es gibt da aber ganz große Unsicherheiten noch – das kann sich auch noch ganz grob ändern", so Drosten weiter.

Grundsätzlich betonte er: "Es gibt viele milde Fälle. Das ist im Grund wie eine Erkältung." Für den Einzelnen sei die Krankheit deshalb kein großes Problem, wenn er zu keiner Risikogruppe gehört.

Dauer der Pandemie/Epidemie

Wie lange dauert es, bis die Corona-Epidemie in Deutschland vorbei ist? Zu dieser Frage sagte der Virologe vergangene Woche, dass sich knapp 70 Prozent der Bevölkerung infizieren müssten, damit die Erkrankung gestoppt werden kann. Daraufhin habe er viele empörte Reaktionen bekommen, sagte Drosten nun. Und machte sich sogleich daran, zu erklären, wie er auf die Zahl komme. „Das ist kein Drohszenario“, so Drosten. „Das ist etwas ganz Natürliches, gar nichts Schlimmes, wenn sich das über eine längere Zeit ausdehnt.“

Drosten lieferte das dazugehörige Rechenbeispiel. Man gehe aktuell davon aus, dass ein Erkrankter im Schnitt drei andere Menschen infiziere. „Also in der ersten Woche einer, in der zweiten Woche drei, in der dritten Woche neun.“ Nun sei die Frage: „Was muss passieren, damit das stoppt?“ Es müsse das Ziel sein, diese Quote auf unter eins zu drücken. Dann würde sich die Krankheit nicht weiter ausbreiten. Und das passiere, wenn mindestens zwei von drei Menschen immun gegen eine Ansteckung seien, also schon mal erkrankt waren. „Und zwei von drei sind eben 67 Prozent“, so Drosten.

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Werden Infizierte wirklich immun gegen Coronavirus?

Doch werden Corona-Infizierte wirklich immun gegen die Krankheit? RKI-Chef Lothar Wieler: "Patienten haben neutralisierende Antikörper", die sie immun machten. "Wie lange die Immunität hält, werden wir natürlich erst hinterher beantworten können." Drosten ergänzt, dass aus Asien Mehrfach-Infektionen gemeldet worden seien. Er habe sich die Fälle angeschaut und könne das so nicht bestätigen.

"Manchmal gehen Leute am Anfang ins Krankenhaus und bei einem schweren Verlauf in der folgenden Woche nochmal ins Krankenhaus. Vielleicht sogar in ein anderes. Und dann werden sie einmal positiv getestet und beim zweiten Mal nochmal." Aber es sei dieselbe Infektion. "Diese Erkrankung verleitet dazu, Missverständnisse zu haben", so Drosten.

Spahn startet "verstärkte Kommunikationsoffensive"

Drostens Ausführungen sind Teil einer "verstärkten Kommunikationsoffensive", so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Das Coronavirus mache vielen Bürgern Angst und Sorge, sagt Spahn.

Das sehe er auch daran, dass die Hotlines teilweise überhitzt seien. Er wertet das "hohe Informationsbedürfnis der Menschen" als "gutes Zeichen" und will mithilfe der Experten und ihren Sachinformationen "Unsicherheiten abbauen".

Wichtige Telefonnummern bei Covid-19-Verdacht

Die Bundesregierung empfiehlt: Bei Coronavirus-Symptomen ist es besser anzurufen, statt im Wartezimmer zu sitzen.