Wer heilt hat Recht: Star-Mediziner fordert radikales Umdenken zu einer Weltmedizin
Moderne Medizin bewege sich weg vom Menschen, hin zur Technik. Und vieles der traditionellen Naturheilkunst, die den Menschen in seiner Gesamtheit achtet, gerate darüber in Vergessenheit, sagt Dietrich Grönemeyer. Er warnt davor, dass Menschen deshalb aussterben könnten.
Die medizinische Versorgung der Europäer war noch nie so gut wie heute? Das stimmt nur auf den ersten Blick. Denn wenn Diagnose und Behandlung immer mehr von Maschinen übernommen werden, kommt der Mensch irgendwann zu kurz, befürchtet Mediziner Dietrich Grönemeyer.
Anders sei das in der traditionellen Heilkunst, die vielerorts schon seit Jahrtausenden besteht. Doch diese Erfahrungsheilkunde droht in Vergessenheit zu geraten. Damit ginge wertvolles Wissen für immer verloren. Dietrich Grönemeyer ist in vielen Ländern der Erde auf Spurensuche gegangen, um Naturmedizin vor Ort kennenzulernen. Er hat sie in seinem Buch „Weltmedizin“ zusammengeführt und zeigt damit den Weg zu einer ganzheitlichen Heilkunst.
FOCUS Online hat Dietrich Grönemeyer, der sich neben seiner Tätigkeit als Arzt auch in der Forschung und in sozialen Projekten engagiert, zur Synthese aus Hightech-Medizin und interkultureller Naturheilkunde befragt.
FOCUS Online: Noch nie war Medizin so hochtechnisiert wie heute: Künstliche Intelligenz, Pflegeroboter, Computerprogramme, die nach Symptomen die Diagnose stellen und Therapievorschläge machen. Ein Fluch oder ein Segen?
Dietrich Grönemeyer: Als Schulmediziner nutze ich diese Techniken täglich. Als Wissenschaftler habe ich die Entwicklung selbst mit vorangetrieben. Aus der täglichen Praxis weiß ich, was wir der Hightech-Medizin verdanken. Das beginnt schon bei der Telemedizin und den digitalen Kommunikationssystemen. Und natürlich betrifft es viele Diagnose- und Therapieverfahren.
Technik ermöglicht uns, Organ- und Zellbestandteile sichtbar zu machen und zu behandeln, ihre Stoffwechsel und Gene zu analysieren oder sogar neue Medikamente oder Inhaltstoffe von Pflanzen produzieren zu lassen. Wenn ich als Radiologe in Tomographen wie CT oder MRT operiere – ich habe diese Methode als Mikro-Therapie definiert – nutze ich zum Beispiel Laser oder Hochfrequenz und auch ein GPS-ähnliches System zur Navigation. So lassen sich Sonden und Instrumente millimetergenau führen. Außerdem nutze ich diese Schnittbildgebung, um kleinste Strukturen und Veränderungen – auch zur Prävention – im Körper zu sehen. Ich bin begeistert, dass es diese Technik gibt, ein Segen.
Allerdings wird sie zum Fluch, wenn wir den Mensch nicht mehr in seiner Gesamtheit sehen – weder im gesunden noch im kranken Zustand – sondern nur noch seine Bestandteile. Wir machen ihn zwar mit Apparaten transparent, aber sehen ihn dabei kaum noch an. Wir erkennen den Menschen nicht mehr als Ganzes in seinem Fühlen, Denken und Handeln.
FOCUS Online: Warum ist dieser Aspekt so wichtig?
Grönemeyer: Der Mensch ist keine Maschine. Wenn wir uns als Menschheit weiterentwickeln wollen, muss die Medizin jeden als Persönlichkeit wahrnehmen mit all seinen individuellen Besonderheiten. Jeder Mensch, aber auch jeder Stoffwechsel ist anders. Jede Krankheit erzeugt bei jedem unterschiedliche Reaktionen und muss individuell behandelt werden.
Medizin ist ein Kulturgut, so alt ist wie Essen und Trinken. Sie hat uns ermöglicht, dass wir heute noch existieren. Die Medizin der Vergangenheit hat uns Wesentliches mitgegeben. Von Heilkräutern bis zu lokalen Therapieverfahren, von heilsamer Nahrung bis zur Musik, Tanz, Meditation, Yoga, Sport und Traumdeutung. Wenn wir dieses Wissen nicht pflegen und weiterentwickeln, bleiben wir als Menschen auf der Strecke.
FOCUS Online: Damit dieser Erfahrungsschatz nicht verloren geht und um traditionelle Naturmedizin zu erkunden, haben Sie verschiedene Länder und Kontinente bereist: Südamerika, Indien, Südafrika, Asien, Australien. Sie haben dort mit Ärzten und Heilern gesprochen. Was war Ihre beeindruckendste Begegnung?
Grönemeyer: Mein Schlüsselerlebnis war, als ich eine chinesische Ärztin auf Sri Lanka bei ihrer Arbeit begleiten durfte. Diese Ärztin behandelte gelähmte Kinder. Sie nutze dazu Akupunktur und es kam für mich fast einem Wunder gleich, als ich begriff: Wenn man den Körper an bestimmten Stellen lange Zeit gezielt manipuliert, kann das im Einzelfall zum Beispiel Nerven helfen, wieder zu reagieren. Sensibilität oder gestörte Funktionen können wieder zurückkommen, Krämpfe können sich lösen.
FOCUS Online: Hat die Erfahrung mit chinesischer Medizin Ihre Behandlungsmethoden beeinflusst?
Grönemeyer: Diese Ärztin hat mich so beeindruckt, dass ich davon überzeugt war, so weitermachen zu müssen. Und letztendlich habe ich daraus auch die Mikrotherapie entwickelt. Inspiriert dazu hat mich die Frage, wo die Zielpunkte der Akupunkturnadeln zu finden sind. Was ist das eigentlich, was wird da aktiviert?
Mit der Computertomographie konnte ich am Rücken wissenschaftlich nachweisen, dass die Akupunktur-Nerven-Zone bei jedem Menschen an gleicher Stelle zu finden sind, etwa einen halben Zentimeter groß. Das erklärt auch, warum zum Beispiel Akupressur, Shiatsu und Triggerpunktmassagen wirken. Sie beeinflussen diese Zone.
Die Akupunktur ist möglicherweise noch effektiver, aber dazu wissen wir noch viel zu wenig darüber. Es gibt meines Wissens nach bisher nur eine einzige große Studie, die der Techniker Krankenkasse an rund 200.000 Patienten, die zeigt, dass Akupunktur bei leichten Rückenschmerzen, aber auch Kopfschmerzen oder Unterleibschmerzen helfen kann.
FOCUS Online: Welche Wirkstoffe injizieren Sie bei der Mikrotherapie?
Grönemeyer: Wir verwenden Lokalanästhetika, auch Cortison in minimalsten Dosen, um Bandscheiben und Nerven millimetergenau antientzündlich und entwässernd zu behandeln, um eine Operation zu vermeiden. Dank der Mikrotherapie können wir die Substanz genau dorthin bringen, wo sie wirken soll.
Wir überschwemmen also nicht den ganzen Körper damit, wie das bei Infusionen oder Tabletten der Fall wäre. Wir injizieren Biozement mit winzigen Sonden ambulant in zusammengebrochen Wirbelkörper, beispielsweise bei Osteoporose. Wir veröden kleinste Nerven in der Schmerztherapie sogar im Einzelfall mit Botox oder Alkohol. Auch Pflanzenprodukte und antientzündliche Blutbestandteile aus dem Serum wie die Antizytokinine des Patienten verwenden wir. Sie eignen sich vor allem für Beschwerden im Anfangsstadium.
FOCUS Online: Wie bewerten Sie Naturmedizin?
Grönemeyer: Naturheilkunde und Schulmedizin schließen sich nicht aus, sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Naturmedizin sollte in unsere Hightech-Schulmedizin integriert sein. Wichtig für mich ist dabei, von leicht nach schwer zu behandeln, mit einfachen Methoden anfangen, bevor man mit Kanonen auf Spatzen schießt.
FOCUS Online: Unter alternativen und natürlichen Therapien erlebt die Homöopathie momentan einen deutlichen Aufschwung. Wie ist Ihre Haltung zu homöopathischen Mitteln und Globuli?
Grönemeyer: Ich habe Homöopathie nicht gelernt, bin kein Experte. Viele wenden diese Methode weltweit an und verzeichnen damit scheinbar gute Erfolge, etwa in der Kinderheilkunde. Da kann ich nur sagen: Wer heilt, hat Recht. Als Wissenschaftler fordere ich allerdings Studien. Dogmatismus auf beiden Seiten hilft im medizinischen Streit nicht weiter. Bei ernsten Verletzungen und Krankheiten, etwa einer Streptokokken-Angina, Borreliose, Meningitis oder Herzinsuffizienz, aber auch bei Karies, starken Zahnschmerzen oder eitrigen Abszessen ist die Schulmedizin gefragt.
FOCUS Online: Schulmedizin, Naturheilkunde und traditionelle alternative Heilverfahren sind also kein Widerspruch, sondern können sich ergänzen?
Grönemeyer: Selbstverständlich. Wenn ich beispielsweise rückentherapeutisch arbeite, nutze ich die Mikrotherapie, beziehe Psycho- und Physiotherapeuten, Osteopathen, Shiatsutherapeuten oder Masseure mit ein, erfahrene Fachleute, die sich mit Trigger- und Akupunkturpunkten gut auskennen.
Ebenso greife ich auf Pflanzenmedizin zurück, etwa auf die Weidenrinde oder Wickel mit wärmenden Salben. Das Schmerzmittel Acetylsalicylsäure, das in Aspirin steckt, ist ja bekanntlich eine chemische Weiterentwicklung des Weidenrindenextrakts in konzentrierter Form. Bei leichteren Schmerzen tut es jedoch die Weidenrinde.
FOCUS Online: Die Synthese aus Naturheilkunde und Schulmedizin wäre dann auch sozusagen die Weltmedizin, die kulturübergreifend mit ihrer ganzheitlichen Ansicht dem Menschen das Beste ermöglichen kann. Wie können wir das realisieren, obwohl die westliche Medizin aktuell anscheinend alle Kräfte auf Hightech setzt?
Grönemeyer: Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch nicht weiterexistieren wird, wenn wir den Traum verfolgen, dass der Computer, dass künstliche Intelligenzen den Menschen bestimmen. Das kann nicht funktionieren. Weiterentwickeln können wir uns nicht durch den Computer, aber mit ihm. Das bedeutet: naturwissenschaftliche und psychosoziale Medizin plus der Erfahrungsheilkunde traditioneller Heilweisen. Körper und Psyche bilden eine Einheit.
Vor allem sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, Krankheiten zu verhindern. Hier spielen Achtsamkeit, Eigenverantwortung und Vorsorge, Bewegung und Hygiene eine wichtige Rolle, ebenso das Wissen um uns selbst, was uns guttut, sowohl körperlich, emotional und psychisch.
FOCUS Online: In diesem Zusammenhang setzen Sie auch auf Heilkräuter? In Kürze wird zu diesem Thema ein weiteres Buch von Ihnen erscheinen.
Grönemeyer: Richtig. Denn dieses Wissen darf nicht verloren gehen: Kamillentee oder Minze beruhigen den Magen, Rosmarin ist nicht nur ein Gewürz zur Verdauungsoptimierung, sondern unterstützt auch die Konzentration und Gedächtnisleistung, Kapuzinerkresse und Meerrettich schmecken nicht nur im Salat, sondern haben antibiotische Wirkung.
Wichtig sind auch Massagen oder Pflanzen-Wickel bis hin zum Saunieren mit speziellen Aufgüssen, um Abwehrkräfte zu steigern. Nicht zu vergessen, dass wir kleinere entzündete Wunden auch mit Honig beziehungsweise Propolis, dem natürlichen Antibiotikum der Bienen, behandeln können. Auch hier können wir von den Hausmitteln der Urvölker lernen.
All dieser immense Erfahrungsschatz, aber auch die vielfältige Gefühls- und reflektierende Gedankenwelt des Menschen kann meines Wissens kein Computer ersetzen. Hier kann uns die Weltmedizin weiterhelfen. Sie umschließt alles, was wir Menschen seit Anbeginn mitbekommen haben, was wir in uns tragen und was es wieder zu entdecken gilt – auch in der Medizin. Dann werden wir uns, dann wird sich die Medizin zum Wohle von uns allen weiterentwickeln. Ich bin da sehr optimistisch. Die Jugend ist daran interessiert, kritisch und tatkräftig, sie sieht die Welt anders.
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