„Schickt uns Sauerstoff!“: Brasilianische Stadt versinkt in der Corona-Apokalypse
Das brasilianische Manaus war die erste Stadt der Welt, der eine mögliche Corona-Herdenimmunität nachgesagt worden war. Aktuelle Bilder zeigen allerdings etwas anderes: Die Zahlen steigen, Krankenschwestern rufen nach Sauerstoff, die Stadt rüstet ihre Friedhöfe auf.
In der brasilianischen Metropole Manaus ist erneut das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Ähnlich wie in der ersten Corona-Welle können die lokalen Krankenhäuser der großen Zahl an behandlungsbedürftigen Patienten nicht mehr gerecht werden. Besonders knapp ist Berichten nach der medizinische Sauerstoff.
Aus Kliniken ist zu hören, dass Menschen ersticken, weil sie nicht ausreichend beatmet und mit Sauerstoff versorgt werden können. Das Video einer Krankenschwester, die fleht: „Sauerstoff. Schickt uns Sauerstoff!“, geht durch die sozialen Netzwerke.
Hunderte Schwerkranke müssen zuhause versorgt werden
Selbst der zum Corona-leugnenden Kabinett von Regierungschef Jair Bolsonaro gehörende Gesundheitsminister Brasiliens hat ob der Zustände in der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt inzwischen den Kollaps der Gesundheitsversorgung eingestanden. 480 Covid-19-Patienten warteten demnach auf ein Krankenhausbett. Sandro Pereira/XinHua/dpa Menschen stehen Schlange, um Sauerstoff zu kaufen. Nach dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Manaus müssen viele Covid-Patienten zuhause versorgt werden.
Zumindest etwas vom dringend benötigten Sauerstoff soll die nationale Luftwaffe jetzt in die Metropole geliefert haben, wie das brasilianische Nachrichtenportal „G1“ berichtet. Demnach seien noch am Freitag zwei Transportflugzeuge mit 386 Sauerstoff-Zylindern in der abgelegenen Stadt mitten im Amazonas-Gebiet angekommen. Ob und wie lange der Sauerstoff ausreicht, ist unklar.
22.000 Gräber muss die Stadt neu ausheben
Benötigt wird er längst nicht nur für Corona-Patienten: Nach einem Bericht von „CNN Brasil“ mussten aufgrund des Sauerstoff-Mangels bereits mindestens 60 Frühgeborene aus Manaus in andere Bundesstaaten verlegt werden. Gouverneure anderer Bundesstaaten seien darüber hinaus aufgefordert, die Verfügbarkeit von Aufnahmebetten zu prüfen, heißt es weiter. Der Bundesstaat Maranhão habe bisher zugesagt, zwischen fünf und zehn Babys aufzunehmen.
Doch nicht nur in den Krankenhäusern der Stadt hinterlässt Corona erneut verheerende Spuren: Auch die Friedhöfe sehen sich gezwungen ob der ebenfalls wieder stark steigenden Todeszahlen zu reagieren. Um einen Zusammenbruch des Bestattungswesens zu verhindern, will die Stadt 22.000 neue, vertikale Gräber ausheben. Lucas Silva/dpa Friedhofsmitarbeiter tragen den Sarg eines an Covid-19 gestorbenen Menschen am Friedhof Nossa Senhora Aparecida in Manaus
Die Konstruktion würde „in den kommenden Tagen“ beginnen, sagte Bürgermeister David Almeida dem regionalen Fernsehsender „Bom Dia Amazônia“. „Wir müssen den Platz, den wir haben, ausnutzen und werden den Tarumã-Friedhof vertikalisieren.“ Der Cemitério do Tarumã war bereits in der ersten Corona-Welle einer der Friedhöfe gewesen, auf denen Massengräber angelegt worden waren.
Szenario aus dem Frühjahr droht sich zu wiederholen
Damit könnte sich das schreckliche Szenario aus dem Frühjahr in Manaus wiederholen, als viele Krankenhäuser und Friedhöfe an ihre Grenzen gelangten und weit darüber hinaus. Weil Staatschef Bolsonaro Covid-19 für nichts weiter als „ein Grippchen“ gehalten hatte und es auch weiter tut, hatte es dort anders als in Europa keinen Lockdown oder andere strikte Maßnahmen gegeben, um Infektionen zu verhindern. Lucas Silva/dpa Trauriges Bild aus der ersten Corona-Welle einer Intensivstation in Manaus
Der Stadt bescherte das immense Opferzahlen: Bis zu 100 Menschen pro Tag verstarben zu Hochzeiten der Pandemie im Mai an oder mindestens mit nachgewiesener Corona-Infektion. Manche Kliniken mussten die Leichen der Verstorben damals zwischenzeitlich in Kühlcontainern aufbewahren, weil die Bestatter nicht mehr mit ihrer Arbeit hinterherkamen. Fotos zeigen gigantische Felder, wo die Särge der Corona-Toten massenhaft in die Erde gelassen wurden. Blaue Kreuze markieren die letzte Ruhestätte der Verstorbenen. Altemar Alcantara/Semcom/Bürgermeisteramt Manaus/dpa Auf diesem vom Bürgermeisteramt Manaus zur Verfügung gestellten Bild trauert eine Frau mit Mundschutz an einem der Massengräber
Woher kommt die Theorie einer Herdenimmunität?
Bis zum Spätsommer gingen die Zahlen in Manaus entgegen des Verlaufs in den übrigen Teilen Brasiliens, wo die Behörden teils deutlich restriktiver gegen das Virus vorgingen, stark zurück. Könnte das der ersehnte Effekt der Herdenimmunität sein? Das war damals die Frage. Die Antwort von Expertenseite: Kann sein, muss aber nicht.
Der wissenschaftliche Hintergrund neben den zurückgegangenen Infektionszahlen war vor allem eine internationale Studie, die Forscher auf dem Pre-Printserver medRxiv.org veröffentlicht hatten. Mehr als 30 Epidemiologen, Virologen und Mediziner hatten dafür tausende Blutspenden aus den brasilianischen Städten Manaus und Sao Paulo auf ihren Antikörpergehalt untersucht. Konnten sie im Blut Antikörper gegen Sars-CoV-2 nachweisen, werteten sie das als Zeichen dafür, dass die Probanden bereits Kontakt mit dem Erreger hatten – und zumindest für eine gewisse Zeit immun gegen eine weitere Ansteckung sind.
Mittlerweile ist die Studie durch unabhängige Experten gegengecheckt worden und im Fachmagazin „Science“ erschienen. Demzufolge hatten in den ersten acht Monaten der Epidemie drei Viertel der Einwohner Manaus' bereits eine Infektion durchgemacht – wissentlich oder unwissentlich. Eine Herdenimmunität und der Effekt, dass sich das Virus nicht mehr oder nur noch sehr langsam ausbreitet, müsste sich eigentlich einstellen, geht man davon aus, dass dafür etwa zwei Drittel Immune in einer Population erforderlich sind.
Mutanten könnten Herdenimmunität verhindern
In Manaus stellt sich dieser Effekt tragischerweise bislang nicht ein. Die Studienautoren vermuten, dass genetisch veränderte und besonders ansteckende Virusmutanten, wie sie derzeit auch in Europa kursieren, damit zu tun haben könnten. Sie seien den Daten nach in Brasilien bereits vergleichsweise stark verbreitet. Die Immunität gegen die ursprüngliche Virusform könnte gegen sie nur eingeschränkt helfen, so die Hypothese; neuerliche Infektionen seien so möglich. Die derzeit wieder massiv hohen Infektionszahlen könnte das erklären.
Ethisch war der Zwischenerfolg in Sachen Infektionszahlen in der südamerikanischen Stadt schon im Sommer ein höchstumstrittener. Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig sagte etwa der „Süddeutschen Zeitung“: „Abgesehen von der Frage, ob dieser Effekt nachhaltig ist, gilt es zu bewerten, zu welchem sozialen und gesundheitlichen Preis dieser erkauft wurde.“ Denn stecken sich viele Menschen an, mag das der Herdenimmunität zuträglich sein und die Infektionszahlen auf Dauer sinken lassen. Bis dahin haben aber vor allem Menschen mit Risikofaktoren ein enorm hohes Risiko sich zu infizieren und schwer zu erkranken.
Extrem hohe Todeszahlen in Brasilien
Entsprechend hoch waren deshalb bereits in der ersten Welle die Corona-Todeszahlen in Manaus: Mehr als 4000 Tote zählte die Stadt schon im Sommer, was etwa 1 Toten pro 500 Einwohner entspricht. Zum Vergleich: In München waren bei ähnlich vielen Einwohnern im gleichen Zeitraum 224 Menschen in Folge einer Coronavirus-Infektion gestorben. Bei 1,5 Millionen Einwohnern bedeutete das 1 Corona-Toten pro 6700 Einwohner. Inzwischen zählt Brasilien laut Johns-Hopkins-Universität mit 210.299 so viele Corona-Tote wie kaum ein anderes Land. In Deutschland sind bisher 47.832 Menschen mit oder an Covid-19 verstorben (Stand: 19.01.21).
Um das Infektionsgeschehen wieder in den Griff zu bekommen, gilt im Bundesstaat Amazonas, zu dem Manaus zählt, seit Freitag eine Ausgangssperre von 19 Uhr bis 6 Uhr. Eine schnelle Besserung der Lage ist aber nicht in Sicht. Vor allem weil das größte Land in Lateinamerika noch immer ohne Impfkampagne für die Bevölkerung dasteht. Nachdem Präsident Jair Bolsonaro das Coronavirus zuerst verharmlost hatte, zieht er mittlerweile auch die Impfung in Zweifel. „Wir übernehmen keine Verantwortung“, sagte er. „Wenn du ein Kaiman wirst, ist das dein Problem.“
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