Blut verrät Sterberisiko
Warum sterben einige Menschen mit 75 Jahren und andere werden 100 Jahre alt? Die Antwort könnte nach Ansicht eines internationalen Forscherteams im Blut liegen. Die Wissenschaftler haben 14 sogenannte Biomarker ausgemacht, mit denen sich die Wahrscheinlichkeit berechnen lässt, innerhalb der kommenden fünf oder zehn Jahre zu sterben, wie sie im Fachblatt „Nature Communications“ berichten.
Biomarker sind messbare Werte, die beispielsweise auf Krankheiten hindeuten können. In der aktuellen Studie werden sie jedoch nicht benutzt, um bestimmte Diagnosen zu stellen. Sie sagen allein die statistische Wahrscheinlichkeit voraus, ob ein Patient in einem bestimmten Zeitraum stirbt. Ist das Ergebnis beispielsweise 60 Prozent bedeutet das, dass 60 Prozent der untersuchten Patienten mit denselben Werten innerhalb von fünf beziehungsweise zehn Jahren gestorben sind.
Eine höhere Konzentration an Glukose oder Laktat gehe beispielsweise mit einem höheren Sterberisiko einher, eine höhere Konzentration an den Aminosäuren Histidin und Leucin oder des Bluteiweißes Albumin mit einem geringeren. Den Forschern schwebt nun ein Test vor, der das Sterberisiko von Patienten vorhersagen sagen soll. Doch wer würde das wissen wollen?
Zu „fragil“ für eine OP
Die Forscher sehen vor allem einen Vorteil: Wenn Ärzte wissen, wie hoch das Sterberisiko ist, könnten sie besser entscheiden, ob eine Patientin möglichweise zu „fragil“ für einen Eingriff ist. Genau diesen Ansatz aber bewerten unabhängige Wissenschaftler kritisch. Denn anders herum könnten Ärzte und Krankenkassen auch fragen: Lohnt die Operation noch, wenn die Patientin wahrscheinlich in fünf Jahren tot ist?
„Wie verhindern wir, dass statistische Risikoeinschätzungen einen zu hohen Stellenwert in der Therapiezielfindung einnehmen?“, fragt Annette Rogge kritisch. Sie ist Vorsitzende und Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH). Wer stellt sicher, dass kein Patient diskriminiert wird? Wer soll die schlechte Nachricht überbringen und wie? Laut Rogge hätten Patienten zudem ein Recht auf Nichtwissen, das unbedingt sichergestellt werden müsse.
Für die Studie hatte das internationale Team um Joris Deelen vom Max-Plack-Institut für die Biologie des Alterns in Köln Daten von 44.168 Patienten ausgewertet. Zu Beginn der Langzeitstudien waren die Probanden zwischen 18 und 109 Jahre alt. Jeder achte von ihnen starb innerhalb des Beobachtungszeitraums.
Die Wissenschaftler hatten in Blutproben der Patienten nach Stoffen gesucht, die Rückschlüsse auf das Sterberisiko erlauben. Sie identifizierten 14 solcher Biomarker – vor allem Aminosäuren, Fette und Entzündungsbotenstoffe. Sowohl bei Männern als auch Frauen über verschiedene Altersgruppen hinweg sagten sie das Risiko deutlich zuverlässiger voraus als bisher bekannte Biomarker.
„Die vorgestellten Biomarker sind durchaus biologisch plausibel und wurden in Einzelstudien zum Teil bereits verwendet, aber eben nicht in dieser Kombination“, sagt Florian Kronenberg vom Institut für Genetische Epidemiologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, der nicht an der Studie beteiligt war.
Test noch weit von Marktreife entfernt
„Es macht möglicherweise zunächst Angst, wenn ein Algorithmus über Therapien mitentscheidet“, so Kronenberg. „Doch schon heute fallen in der Medizin ständig Entscheidungen, meist auf der Basis von relativ wenigen Daten.“ Mehr Daten erlaubten künftig vermutlich präzisere Vorhersagen.
Noch sind die Forscher allerdings weit davon entfernt, einen solchen Test zur Marktreife zu bringen. Dafür wären viele weitere Studien nötig. „Es braucht in der Regel viele Jahre und zahlreiche Evaluierungsschritte, bis es ein Biomarker wirklich in die klinische Anwendung schafft“, sagt Kronenberg.
Medizinethikerin Rogge stellt die Markteinführung grundsätzlich in Frage. „Die Nutzung des hier vorgestellten Biomarker-basierten Mortalitätsrisikos für Therapieentscheidungen einzelner Patienten ist sowohl heute als auch als Zukunftsvision äußerst kritisch zu bewerten.“
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