„Sau nimmt B12-Pille, damit du es nicht musst“: Was bei Ernährung heute schief läuft
Jeder zehnte Deutsche verzichtet auf Fleisch. Doch der Verzicht kann gefährlich werden, sagt Mediziner und selbst Vegetarier Matthias Marquardt – zumindest ohne Nahrungsergänzungsmittel. Aber mal ehrlich: Ob die Kuh eine B12-Pille bekommt oder Sie eine nehmen, ist doch egal, oder?
Immer mehr Menschen verzichten auf Fleisch. Von 2016 bis 2020 nahm der Anteil der Vegetarier um 23 Prozent und der der Veganer um 41 Prozent zu. Das sitzt. Wenngleich ich bezüglich Statistiken, die auf der Selbsteinschätzung des durchschnittlichen Bundesbürgers beruhen, eine grundsätzliche Skepsis habe. Nach ihren Ernährungsgewohnheiten befragt, isst eigentlich nur noch eine mikroskopische kleine Minderheit meiner Patienten Fleisch. Und wenn, dann selbstverständlich nur von totgestreichelten Bio-Kühen vom Bauern nebenan. Und selten. So selten, dass man es eigentlich kaum noch erwähnen müsste.
Diese vermeintlichen Heerscharen von Teilzeitvegetariern (neudeutsch: Flexitarier), die in Gummistiefeln die frisch geschlachtete Bio-Rinderhälfte vom brandenburgischen Bauern in ihren SUV zerren, tauchen interessanterweise in der Fleischproduktionsstatistik nicht ganz so deutlich auf: Biofleisch machte 2019 schlappe drei Prozent des Fleischverzehrs in Deutschland aus. Ob da etwa doch jemand – ganz ausnahmsweise – die Tönnies-Nackensteaks für 1,49 Euro zum spontanen Grillen beim Discounter kauft? Der Nachbar vielleicht?
Dori Fischl/BurdaForward
Über den Experten
Dr. Matthias Marquardt hat die „Laufbibel“ geschrieben, ist in der Laufszene als „Laufpapst“ bekannt und betreut als Sportinternist und Spezialist für Laufverletzungen Patienten aus ganz Deutschland in seiner Praxis für „Sport & Check-up“ in Hannover. Der begeisterte Triathlet duscht Sommer wie Winter im Garten und schwimmt gerne im Mittellandkanal, an dem er mit seiner fünfköpfigen Familie lebt. Der RunnigDoc schreibt auf FOCUS Online über Gesundheit, Bewegung und das Leben als Sportarzt. Hier finden Sie ihn bei Instagram und Facebook.
Sei es drum. Fleischessen ist für viele inzwischen so attraktiv wie Fußpilz. Die inzwischen acht Millionen Fleischabstinenzler machen zehn Prozent unserer Gesellschaft aus und wie wir an meinen Patienten sehen, möchten immer mehr dazu gehören. Tatsächlich sinkt der Fleischkonsum auch in absoluten Zahlen: Von etwas über 60 Kilogramm pro Jahr und Person in den letzten Jahrzehnten auf 57,3 Kilogramm pro Jahr und Person im Jahr 2020.
Das ist, nach allem was wir heute wissen, besser für den Planeten, das Tier und den Menschen. Der Planet atmet auf, wenn weniger rülpsende und furzende Rinder den Klimawandel anheizen. Schweine im Maststall würden vermutlich eher gehen Massentierhaltung votieren und bezüglich des Menschen stufte die Weltgesundheitsorganisation rotes Fleisch als „wahrscheinlich krebserregend“ ein, weil ausgerechnet das Eisen aus dem blutroten Fleisch offenbar Darmkrebs begünstigt.
Eisenverfügbarkeit liegt bei Fleisch bei 20, bei Gemüse bei 5 Prozent
Das Eisen ist dabei ein hervorragendes Beispiel für die Auswirkungen des Fleischverzichts auf meine ärztliche Tätigkeit. Eisen gibt’s nicht nur im Fleisch, sondern auch im Grünzeug. Die Quote des im Darm aufgenommenen Eisens (Bioverfügbarkeit) liegt bei Fleisch bei 20 Prozent. Beim Grünzeug sind es nur fünf Prozent. So wird Eisenmangel beim Vegetarier dann und wann zum Problem. Und auch wenn Influencer die Idee, dass der Verzicht auf Kaffee die Eisenaufnahme „total gut“ verbessern kann, so oft wiederkäuen wie die Kuh das Weidegras, so bleibt dies doch eine klinisch kaum relevante Notiz.
Mir ist natürlich klar, dass wissenschaftliche Expertise und ärztliche Erfahrung im postfaktischen Internetzeitalter völlig überholt sind. Ich kann aber nur davor warnen, wenn Luca Müller mit 2000 Followern bei Instagram, der/die seit zwei Jahren kein Fleisch isst und keinen Eisenmangel hat, diese Feststellung in seinem Blog auf den Rest der Menschheit zu übertragen versucht. Und nein, Luca, rote Beete und Rotwein helfen auch nicht! Und so werden die Männer mit dem von Chicken McNuggets gewölbten Bauch, die auf jeder Gartenparty an den Grill stürmen, bestätigt. Dass Eisenmangel wesentlich einfacher zu behandeln wäre als Darmkrebs, geht unter, wenn die Herrschaften „Fleisch ist meine Gemüse“ grölen und die Steaks auf dem Grill zischen.
B12-Mangel führt zu Nervenschäden, die nicht reparierbar sind
Eisen ist aber nicht das einzige Problem der Fleischverächter. Bei den Veganern, die auch keine tierischen Produkte wie Milch oder Ei essen möchten, ist Vitamin B12 ein noch viel größeres Problem. Long story short: B12 wird ausschließlich von Bakterien gebildet. Tiere fressen diese Bakterien und reichern so B12 an. Essen wir dann das Tier oder dessen Produkte, essen auch wir B12. So hat das viele Jahrtausende ganz gut geklappt. Und nein, wir wollen jetzt nicht anhand unserer Zähne, Kieferform oder Darmlänge diskutieren, ob wir eigentlich Fleisch oder Pflanzenesser sind. Ohne Tier kein B12 (oder nur in zu geringen oder nicht bioaktiven Formen).
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Erschreckenderweise sitzen aber immer wieder Veganer vor mir, die in dem Glauben leben, dass die Natur schon alles richten werde. Und dann wird’s irgendwann gefährlich. Denn ein B12-Mangel führt zu Nervenschäden, die man nicht mehr reparieren kann. Wer das für Propaganda der Fleischindustrie hält, der sei darauf hingewiesen, dass der Autor dieser Zeilen selbst seit 28 Jahren Vegetarier ist und damit des Fleischlobbyismus eher unverdächtig. Und er nehme bitte zur Kenntnis, dass in Studien nur fünf bis sieben Prozent der jüngeren Fleischesser einen B12-Mangel haben, aber über 60 Prozent der langjährigen Vegetarier und über 80 Prozent der Veganer. Wenn sie nicht substituieren!
Klartext: Ohne Pillen ist eine gesunde vegane Ernährung nicht möglich. Aber richtig ist eben auch: Wenn Veganer vernünftig B12 in Tablettenform zuführen, dann gibt es kein B12-Problem.
Sie finden diesen Gedanken befremdlich? Sie finden eine Ernährung, die ohne Zusatzpillen nicht auskommt, und sich dann noch gesund und natürlich nennt, kann nicht gut sein? Das habe ich auch lange gedacht. Bis ich lernte, dass Kühe und Schweine für eine gescheite B12-Aufnahme entweder Wildkräuter mit B12-produzierenden Bakterien fressen müssen, oder im Falle der Kuh wenigstens Pflanzen mit Cobalt für die Bakterien im Pansen, die den B12-Job dann übernehmen. Findet bloß beides im Massentierhaltungsstall nicht mehr statt! Was macht also der Landwirt von heute? B12 und Cobalt werden dem Futter beigemengt. Anders gesagt: Die Sau nimmt die B12-Pille, damit Sie es nicht müssen. Wie natürlich ist das denn bitte?
Die „natürliche“ Ernährung scheint passé.
Bei den für die Gesundheit so wichtigen langkettigen Omega-3-Fettsäure ist es dummerweise nicht viel besser. Vor allem im Fisch sind sie enthalten, der sie aber keineswegs selbst bastelt. Er schlürft sie in Form von Algen. Jetzt sind Algen, wie Sie vielleicht im Sushi-Restaurant schon festgestellt haben, kein besonders fettiges Lebensmittel, weshalb es weitaus effektiver ist einen Hering als eine Alge zu essen. Aber Fisch kommt heute immer häufiger aus – Vorsicht Meinung – ziemlich verstörenden Zuchtanlagen und enthält – keine Meinung – durch die künstliche Fütterung immer weniger Omega-3-Fettsäuren. Könnte man dann nicht einfach eine Algenölkapsel einnehmen? Für den Planeten, den Fisch und uns? Ich glaube, man sollte sogar!
Diese Liste könnte man fortsetzen. Unabhängig vom Fleischkonsum führt die moderne westliche Lebensweise mit atemberaubendem Konsum von Netflix, McDonalds und Ben&Jerry‘s zu Vitamin D3-Mangel durch zu wenig Tageslicht bei 30 Prozent der Menschen. Und das ewige Mangelelement Jod fehlt trotz jodierten Speisesalzes 36 Prozent der Deutschen. Kaum jemand isst genügend Fisch, um auf gute Werte zu kommen. Tja, liebe Allesesser. Es sieht ganz danach aus, als würde weder die tägliche Bockwurst an der Autobahntankstelle noch das XXL-Schnitzel in der Kantine automatisch zur optimalen Nährstoffzufuhr führen. Auch wenn Vegetarier und Veganer noch genauer auf ihre Mikronährstoffe achten müssen, so ist es doch ein Thema für uns alle.
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Fleisch hin oder her. Ganz wohl ist mir bei dieser Entwicklung ehrlich gesagt nicht. Die „natürliche“ Ernährung scheint passé. Ist „Natürlichkeit“ heute nur noch ein sentimentales Gefühl? Den Fisch durch Jodtabletten und Omega-3-Kapseln zu ersetzen mag für den Planeten, den Fisch und auch ernährungsphysiologisch ok sein, aber es nimmt mir die Freude und die Vielfalt auf meinem Speiseplan. Ich will nach der morgendlichen Algenölkapsel nicht aufstoßen und aus dem Mund riechen, als würde zwei Zentner Seetang in meinem Bauch verrotten. Ich will lieber einen Seeteufel, den ich – ganz ohne Kochkünste – einfach mit Butter und Salbei in die Pfanne schmeißen kann. Denn ich koche ziemlich schlecht, bin nicht so einfallsreich und geübt wie die Veganer, die ihr Gemüse putzen, schmoren, dampfen und garen und für Instagram so anrichten wie im Sternelokal.
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Was für mittelmotivierte Veggie-Novizen übrigbleibt sind plastikverpackte Fleischersatzprodukte. Reich an Wasser, Öl, Aromastoffen und Saitan. Verrückt ist das schon. Denn Saitan ist Gluten. Und so kaufen aufgeklärte Verbraucher, die Weizen und Gluten eben noch für so ziemlich alle Gesundheitsprobleme der westlichen Welt von Fettleibigkeit bis Migräne verantwortlich machen wollten, Würstchen aus Gluten, sobald sie zum Vegetarier werden. Die Lebensmittelindustrie reibt sich jedenfalls schonmal die Hände. Denn die aus Coveniencegründen im Umsatz rasant steigenden Fleischersatzprodukte sind hochprozessierte Nahrungsmittel. Viel teurer als unverarbeitete Lebensmittel und mit vielen Begleitstoffe, die wir gar nicht wollen. Ich fürchte, das macht‘s nicht besser. Aber die Entwicklung hat gerade erst begonnen und wir müssen einen Umgang damit finden.
Tipps vom RunnigDoc
- Weniger Fleisch und mehr Gemüse sind besser für alle Beteiligten.
- Mal ehrlich: Ob die Kuh eine B12-Pille bekommt, oder ob Sie selbst eine nehmen, ist doch egal, oder?
- Substituieren ist nicht nur für Vegetarier und Veganer ein Thema. Lassen Sie sich vom Doc beraten. Die Inspektion beim Auto machen Sie doch auch nicht selbst!
- Sich über „Fleischessen“ oder „Kein-Fleisch-essen“ zu streiten, ist echt total überholt. Genießen Sie das Leben und seien Sie lieb zueinander!
- Kochen Sie selber und so gut Sie könnt. Sie schaffen das.
Was Veganer messen und ggf. substituieren sollten
Ob man es nun gut findet oder nicht: Veganer und Vegetarier haben ein größeres Risiko für einen Mikronährstoffmangel. Messen und ggf. mit Tabletten ergänzen sollten Sie folgende Vitamine und Mineralstoffe. Insbesondere bei Vitamin B12 ist die zusätzliche Tabletteneinnahme für Veganer unumgänglich.
Hinweis: Jede Vitamin- und Mineralstoffgabe kann Nebenwirkungen und Wechselwirkungen haben. Sprechen Sie vor einer Einnahme der freiverkäuflichen Präparate daher unbedingt mit Ihrem Arzt oder Apotheker.
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