Leben mit starkem Übergewicht: "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Frau auf einen dicken Mann steht"

Bei 200 Kilogramm musste die Waage von Michael „Micky“ Klemsch kapitulieren. Als das Gerät im Jahr 2010 nur noch eine Fehlermeldung anzeigte, wusste Klemsch, dass er abnehmen musste – und setzte sich ein ehrgeiziges Ziel: Der Wiener wollte sein Gewicht halbieren, seinen Weg in einem Blog festhalten und darüber ein Buch schreiben.

Ein Buch hat Klemsch neun Jahre später tatsächlich geschrieben, aber anders als gedacht. Es trägt den Titel „Micky halbiert sich (nicht)“ und ist eine Geschichte des Scheiterns – ehrlich und selbstironisch erzählt, manchmal mit ein bisschen Wehmut, aber ohne Verbitterung. Im stern-Interview spricht Michael Klemsch über seine geplatzten Träume, die Rolle der Psyche beim Abnehmen und sein Leben als Dicker.

Interview mit Michael Klemsch: „Bei 200 Kilo war mein Wohlbefinden im Arsch“

Herr Klemsch, wie viel wiegen Sie im Moment?

Gerade bin ich bei etwas über 150 Kilogramm. Von meinem ursprünglichen Ziel, mich zu halbieren, habe ich also nur ein Viertel geschafft.

Und wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie mit diesem Gewicht?

Als wirklich schwergewichtiger Mensch fühlt man jedes Kilo, das man abnimmt. Auch wenn ich für alle von außen ein sehr schwerer Mensch war, habe ich mich mit 190 Kilo schon wie eine Gazelle gefühlt. Wenn man bedenkt, dass ich vor über einem Jahr noch 200 Kilo gewogen habe, fühle ich mich mit 150 Kilo schon sehr gut. Trotzdem würde ich gern noch mehr abnehmen.

Die Marke von 200 Kilogramm war für Sie dann der Auslöser, radikal abnehmen zu wollen.

Leider ist die Waage bei mir nicht nur einmal über 200 Kilogramm gegangen, das ist der klassische Jojo-Effekt: Man nimmt ab und wieder zu. Aber als damals die Waage mein Gewicht nicht mehr erfassen konnte und nur noch „Error“ angezeigt hat, habe ich gesagt: Jetzt ist nicht nur mein Wohlbefinden im Arsch, sondern auch meine Gesundheit in Gefahr. Das Herzinfarktrisiko ist enorm, Cholesterinwerte, Blutwerte – das war alles sehr alarmierend. Da wusste ich, es muss sich etwas ändern.

Michael Klemsch

„Micky halbiert sich (nicht) – Der ewige Kampf mit den Kilos und den Emotionen“

168 Seiten

Kremayr & Scheriau

22 Euro

Und dann haben Sie sich gleich 100 Kilo vorgenommen – ein sehr ehrgeiziges Projekt. Warum haben Sie sich nicht ein kleineres Ziel gesetzt?

Ich habe mir das Ziel eindeutig zu hoch gesetzt. Im Nachhinein betrachtet, habe ich immer dann abgenommen, wenn ich es lockerer gesehen habe und mich nicht nur aufs Abnehmen fokussiert habe. Wenn ich aber bis zum nächsten Strandurlaub unbedingt 30 Kilo abnehmen wollte, dann ist das meistens nach hinten losgegangen. Und dann habe ich mich wieder nicht in der Badehose vor die Leute getraut.

Sie haben vor einigen Jahren bereits in einer Fernsehshow 60 Kilo abgenommen. Warum hat das diesmal nicht so gut geklappt?

Ich bin ein bisschen eine Rampensau und habe gedacht, dass es mir hilft, wenn ich an dieser Show teilnehme. Diese Hunderttausenden, die da zuschauen, waren für mich eine große Motivation. Aber irgendwann waren die Kameras weg, es hat wieder berufliche und private Sorgen gegeben, die ich mit Essen und Trinken kompensiert habe, und so konnte ich das Gewicht nicht halten. Das Auf und Ab meines Gewichts hat meine Emotionen widergespiegelt. Als ich geheiratet habe und es mir gutging, habe ich abgenommen. Ein paar Jahre später, bei meiner Scheidung, ist das Gewicht wieder in die Höhe geschossen. Ebenso als es berufliche Probleme gab oder als sich ein Freund von mir das Leben genommen hat. Immer, wenn es mir schlecht ging, habe ich mich mit Essen oder Trinken befriedigt.

Wie wichtig ist die Psyche, wenn es ums Zu- oder Abnehmen geht?

Es gibt drei Punkte, die wichtig sind: Ernährung, Bewegung und Psyche. Ich habe gemerkt, dass es für mich nicht so entscheidend ist, was und wie viel ich esse, sondern warum. Ist es nicht dumm, dass ich abends um zehn noch zum Kühlschrank gehe, wenn ich drei Stunden vorher zu Abend gegessen habe? Warum kann ich bei Schokolade nicht aufhören? Was bringt mir das? Kann ich Freude und Zufriedenheit nicht auch woanders bekommen?

Haben Sie für sich Antworten auf dieses Warum gefunden?

Ich möchte mit meinen Buch keine Tipps geben, es ist ja eigentlich ein Bericht übers Scheitern. Über die Jahre habe ich alle möglichen Diäten ausprobiert, aber gemerkt: Die Diät allein hilft nicht. Wenn ich unglücklich bin oder etwas in meinem Leben passiert, und es ist niemand da, der mich in den Arm nimmt, dann trinke ich eben noch ein Bier oder esse noch eine Wurstsemmel. Da muss ich Wege finden, meine Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen, statt mir gesetzlich das Essen zu verbieten.

Noch einmal zurück zum Anfang: Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass Sie so dick geworden sind? Als junger Mann waren Sie ja noch durchaus sportlich.

Ich bin mit 25 noch jeden Tag 60 bis 90 Minuten laufen gewesen – da braucht man natürlich mehr Energie und isst mehr. Irgendwann habe ich wegen einer Verletzung mehrere Monate keinen Sport machen können, habe aber vergessen, mit dem Essen aufzuhören. Das war der Punkt, an dem es gekippt ist.

Heute sprechen Sie sehr offen über das Dicksein und darüber, wie Sie sich damit fühlen. War das schon immer so?

Nein, das war nicht immer so. Aber in den letzten Jahren ist der Begriff „Body Positivity“ mehr in den Mittelpunkt gerückt. Das heißt, es geht nicht nur darum, schnell abzunehmen, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen. Ich versuche, ehrlich damit umzugehen: Okay, ich bin etwas zu dick, aber ich bin trotzdem ein toller Mensch und habe andere Qualitäten als Modelmaße. Ich bewundere Menschen, die sich trotz ihres Übergewichts mit Badehose oder Bikini im Schwimmbad zeigen. Das kann ich nicht, daran arbeite ich noch – darauf zu scheißen, was andere denken und mich selber mehr zu mögen.

Was macht es mit dem Selbstwertgefühl, wenn man zumindest in diesem Bereich so eindeutig nicht den Idealen der Gesellschaft entspricht? Wie wirkt sich das zum Beispiel bei der Partnersuche aus?

Es gibt lustigerweise auch Online-Plattformen für mollige Menschen, wo sich Runde und Runde finden können. Ich habe da gemischte Erfahrungen gemacht. Zwischen 30 und 40 hatte ich gar keine Partnerschaft, ich habe mich zurückgezogen, bin depressiv geworden und konnte mir gar nicht vorstellen, dass eine Frau auf einen dicken Mann stehen kann. Das war eine furchtbare Zeit. Mittlerweile weiß ich, dass es nicht nur Frauen gibt, die auf ein Sixpack achten. Es gibt auch andere Dinge als Äußerlichkeiten – und es gibt Frauen, die sagen: Der Micky ist stattdessen ein lustiger Mensch und kann gut zuhören.

Wie empfinden Sie insgesamt den Umgang mit Dicken in der Gesellschaft?

Es gibt viele Menschen, die nur auf Dicke herabschauen und sagen: Die fette Sau ist selbst schuld. Auf der anderen Seite finde ich gut, dass man immer mehr akzeptiert, dass Fettleibigkeit auch eine Krankheit sein kann, die man akzeptieren und behandeln muss. Da hilft es nichts zu sagen: Iss halt weniger. Aber es verändert sich einiges. Statistisch werden die Menschen immer dicker, da ist es ganz normal, dass es auch mehr anerkannt wird. Vor 15 Jahren habe ich Riesenprobleme gehabt, überhaupt Kleidung in meinen Größen zu finden, heute ist das Angebot da viel breiter – im wahrsten Sinne des Wortes.

Wo unterscheidet sich Ihr Alltag von dem Normalgewichtiger?

Das ist für jeden anders. Es gibt viele dicke Menschen, die sich ungern in der Öffentlichkeit zeigen, für die auch Gehen schon ein großes Problem ist. Manche wollen nicht in volle Bahnen steigen und fahren dann lieber mit dem Auto. Es gibt viele Dinge, die dicke Menschen einschränken: im Kino einen ordentlichen Platz zu bekommen. In der S-Bahn einen Sitzplatz zu bekommen, wo man niemanden einschränkt. Wenn man stehen bleibt, schwitzt man zu sehr. Da ist Barrierefreiheit nicht nur ein Thema für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, sondern auch für stark übergewichtige Menschen. Wenn ich einen Termin im fünften Stock habe und der Lift funktioniert nicht, dann ist das eine Katastrophe.

Bemerkenswert an Ihrem Buch ist, wie ehrlich Sie mit einem Thema umgehen, das vielen Menschen unangenehm ist, und zu dem man sich viele Fragen oft auch gar nicht zu stellen traut. Was würden Sie sich von normalgewichtigen Menschen im Umgang mit Übergewichtigen wünschen?

Das Wichtigste ist, zu erkennen, dass ein dicker Mensch nicht immer selbst schuld daran ist. Dieses „Du hättest die zwei Leberkässemmeln ja nicht essen müssen, jetzt schau dich an, wie du aussiehst“ – davon sollte man abkommen. Das gilt für alle Normen in der Gesellschaft, egal ob Haar-, Augen- oder Hautfarbe oder eben auch Gewicht. 

Ihr Ziel, sich zu halbieren, haben Sie ja jetzt spätestens mit dem Buch aufgegeben. Gibt es ein anderes Gewichtsziel, das Sie gern erreichen würden?

Ich bin überzeugt, dass ich in meinem Leben kein „Uhu“ mehr werde, dass ich also nicht mehr unter 100 Kilo kommen werde. Aber ich möchte auf eine normale Größe kommen, vielleicht 120 Kilo – das ist auch noch übergewichtig, aber nicht so lebenseinschneidend wie aktuell.


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