Island feierte die Herdenimmunität – dann schossen plötzlich die Zahlen nach oben
Es sah schon so aus, als ob Island die Corona-Pandemie überstanden hätte: Der Großteil der Bevölkerung ist geimpft, es gab kaum noch Neuinfektionen. Doch nun ächzt das Land unter einer noch nie dagewesenen Infektions-Welle. Wie konnte das passieren?
Island zählte lange zu den Ländern, welche die Coronakrise sehr gut im Griff hatten: Monatelang zählten die Gesundheitsbehörden kaum Neuinfektionen. Zwischen Ende Februar und Ende März lag die 7-Tage-Inzidenz konstant unter zehn.
Nach 15 Monaten Abstand halten, Maske tragen und weiteren Maßnahmen hob das Land daher Ende Juni alle Einschränkungen auf. Die Herdenimmunität sei erreicht, meinte damals der Landesepidemiologe Thorolfur Gudnason. Das Coronavirus könne zwar gelegentlich noch in kleineren Gruppen auftreten, aber mit einem landesweiten Ausbruch rechnete er nicht mehr. Als die Isländer am 26. Juni ihren „Freedom Day“ feierten, hatten bereits 87 Prozent der Einwohner über 16 Jahre ihre erste Spritze erhalten, 60 Prozent waren vollständig geimpft.
Island macht bei Eindämmung der Pandemie gerade eine Rolle rückwärts
Doch nur zwei Wochen nach den Lockerungen schnellten die Infektionszahlen wieder in die Höhe. Inzwischen zeigt das Dashboard einen 14-Tages-Inzidenz-Wert von 402,2 Fällen pro 100.000 Einwohner (Stand 13.8.21). Am 9. August lag der Wert mit 422,6 sogar noch höher. Damit hat der nordische Inselstaat sein bisheriges Rekordhoch vom vergangenen Oktober (14-Tages-Inzidenz 291,8) längst übertroffen. Von Herdenimmunität spricht keiner mehr.
Angesichts dieser Entwicklung zeigten sich Gudnason und andere Experten mehr als enttäuscht: Den erneuten Ausbruch führt der Landesepidemiologe insbesondere auf das Nachtleben in Reykjavik und auf isländische Reisende zurück, die das Virus bei ihrer Rückkehr eingeschleppt haben. Einige Fälle waren längere Zeit nicht entdeckt worden, da Geimpfte wie in vielen anderen Ländern – darunter auch Deutschland – für die Einreise keine Tests benötigten.
Geimpfte machen inzwischen Mehrheit der Angesteckten aus
Dass Menschen, die gegen Corona geimpft sind, hier einen Vorteil genossen haben, stuft die isländische Regierung inzwischen jedoch als Fehler ein – und verlangt seit dem 26. Juli auch von Geimpften und Genesenen einen negativen Corona-Test. So zeigen die Daten der Gesundheitsbehörden vor Ort, dass Geimpften inzwischen die Mehrheit der Angesteckten in Island ausmachen. Daher deute alles darauf hin, erklärte Gudnason, dass auch Geimpfte Infektionen relativ leicht weitergeben.
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Dadurch wiederum konnte sich die Delta-Variante zeitweise exponentiell ausbreiten, obwohl die Insel mit ihren 360.000 Einwohnern die höchste Impfquote Europas hat. „Es ist ein typisches Phänomen der sogenannten besorgniserregenden Varianten, dass sie zu plötzlich in die Höhe schnellenden Entwicklungen führen“, erklärte zudem Friedemann Weber, Leiter des Instituts für Virologie der Universität Gießen gegenüber der „Rheinischen Post“ (RP). Solche Trends habe man auch bereits in Großbritannien und Israel beobachten können.
Impfungen schützen vor schweren Verläufen
Mögliche Rückschlüsse für Deutschland lassen sich ausgehend von den isländischen Daten auch zum Thema Auffrischungsimpfung ziehen: So sind rund 60 Prozent der Isländer sind mit einem mRNA-Impfstoff geimpft (Moderna oder Biontech). Alle Übrigen mit Vektor-Impfstoffen. Dennoch waren von den Personen, die sich in dieser jüngsten Welle mit Covid infiziert haben, über 50 Prozent mit dem Janssen-Impfstoff von Johnson & Johnson geimpft. Das Verhältnis ist hier also besonders hoch.
Es gibt aber auch gute Nachrichten: So sollen alle Impfungen laut Islands Landesepidemiologen Gudnason insofern gut wirken, als dass es nur wenige schwere Erkrankungen gebe. Regierungschefin Katrín Jakobsdottir rechnet daher damit, dass nun ein neues Kapitel der Epidemie beginne: Mit vielen Infektionen, aber vermutlich gutem Schutz vor ernster Krankheit.
Der deutsche Virologie Weber hält es dennoch für sinnvoll, anlässlich der Entwicklungen in Island weitere klinische Tests voranzutreiben. Nur so könne man schnelle Erkenntnisse dazu zu bekommen, wie schnell auch in Deutschland nachgeimpft werden müsse, sagte er der „RP“.
Die isländische Regierung hat mittlerweile bereits beschlossen, eine Auffrischungsimpfungen zu verabreichen. Gleichzeitig soll auch die Immunisierung der 12- bis 15-Jährigen vorangetrieben werden.
Gesundheitssystem ist die größte Sorge
Die größte Sorge der isländischen Behörden ist unterdessen die Kapazität des Gesundheitssystems, das vor allem in Bezug auf die Personalausstattung aktuell an seine Grenzen stößt. Gudnason erklärte, wenn die Verwaltung des Nationalen Universitätskrankenhauses ihm mitteile, dass das Krankenhaus überlastet sei, müsse man die Beschränkungen im Inland weiter verschärfen.
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Die Zügel angezogen, hat die Regierung ohnehin schon – und machte bei den Lockerungen eine erste Rolle rückwärts: Neben der Testpflicht für alle vor der Einreise sind Veranstaltungen auf 200 Personen beschränkt, es gilt eine Abstandspflicht von einem Meter oder eine Maskenpflicht, Zulassungsbeschränkungen für Lokale sowie frühere Schließzeiten für Bars.
Fest steht: Die Island-Misere und die Entwicklung vor Ort sind ein Warnsignal, dass wir in Deutschland ernst nehmen sollten. „Es zeigt, wie gefährlich es ist, im Sommer leichtfertig alle Schutzmaßnahmen aufzuheben“, bilanzierte zum Beispiel der Hamburger Epidemiologe Ralf Reintjes gegenüber der „Welt“. Es müsse dem Virus möglichst schwer gemacht werden, sich zu verbreiten. „Von unserem Verhalten jetzt hängt ab, wie wir durch den nächsten Herbst und Winter kommen.“
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