Hohe Impfquote, aber das Vakzin aus China versagt: Chile "am Rande des Kollaps

Lange Zeit galt Chile als Musterschüler Lateinamerikas im Kampf gegen die Pandemie. Kaum ein anderes Land der Welt kam mit den Schutzimpfungen so schnell voran. Dank harter Maßnahmen brachte Chile die erste Corona-Welle vergleichsweise glimpflich hinter sich. Doch nun beginnt die Strategie der Vorzeigenation langsam, aber sicher zu bröckeln.

Trotz der erfolgreichen Impfkampagne kämpft Chile mit so hohen Infektionsraten wie seit einem Jahr nicht mehr. Nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz im Mai etwas abgeflacht war, bewegt sie sich seit zwei Wochen wieder auf einem Rekordniveau von rund 260 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner.

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Steigende Infektionen trotz hoher Impfquote

Besonders hart getroffen ist die Metropolregion von Santiago de Chile, in der fast die Hälfte der Bevölkerung lebt. Seit dem letzten Wochenende gilt hier wieder ein harter Lockdown: Nur, wer in systemrelevanten Berufen arbeitet, darf das Haus verlassen. Spazieren gehen oder Sport treiben ist nur in den Morgenstunden mit Personen aus demselben Haushalt erlaubt. Zweimal pro Woche darf man für zwei Stunden Einkaufen gehen. Chiles Präsident Sebastian Piñera appellierte an die Menschen, sich an die Regeln zu halten und stellte in Aussicht, dass der neuerliche Lockdown dann vielleicht schon in zwei Wochen wieder eine Stufe runtergesetzt werden könnte.

Mittlerweile geraten die Krankenhäuser an ihre Grenzen. Die Intensivstationen seien zu 98 Prozent ausgelastet, sagte der Präsident des chilenischen Pflege-Nationalverbands der Pflegeverbände (FENASENF), Jose Luis Espinoza. Im ganzen Land seien weniger als 150 Intensivbetten frei – die höchste Auslastung in Chiles Geschichte. Die Pflegerinnen und Pfleger seien "am Rande des Kollaps".

Dabei gilt Chile als Impfchampion Lateinamerikas. Rund drei Viertel der knapp 20 Millionen Einwohner hat mindestens eine Impfdosis erhalten. Mehr als die Hälfte – 58 Prozent – sind bereits vollständig geimpft. Damit hat das Land sein Ziel, mindestens 75 Prozent der Bevölkerung zu impfen, fast erreicht. Drei Viertel gelten als ausreichend, um Herdenimmunität zu gewährleisten.

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Chile war Impfchampion. Jetzt wird der Impferfolg dem Land zum Verhängnis

Gamma-Variante macht Chile das Leben schwer

Für die dramatische Entwicklung in Chile gibt es mehrere Gründe. Paradoxerweise hängt einer mit Impfkampagne selbst zusammen –genauer gesagt mit dem Impfstoff: In Chile wurde zu mehr als drei Viertel der chinesische Impfstoff Sinovac gespritzt. Im Gegensatz zu mRNA-Impfstoffen von Biontech und Moderna kann der sogenannte Totimpfstoff relativ schnell in großen Mengen hergestellt werden.

Die Studien zur Wirksamkeit von Sinovac kamen jedoch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen: In Chile schützte der Totimpfstoff Menschen nur zu etwa 63 Prozent vor symptomatischen Erkrankungen und schweren Verläufen, in Brasilien sogar nur zu 50 Prozent. Zwar pendelt sich die Sterblichkeit in Chile auf einem etwas niedrigeren Niveau ein, was daraufhin deutet, dass Sinovac die Verläufe zumindest abmildert.

Die Wirksamkeit gegen eine generelle Ansteckung und damit auch gegen die Verbreitung wird ebenfalls niedrig eingeschätzt. Das könnte nun angesichts der sich rasant ausbreitenden ansteckenderen Virusmutanten zum Verhängnis werden. Mittlerweile ist die brasilianische Variante P.1 Spitzenreiter bei den Neuinfektionen in Chile. Die von der WHO als "Gamma" getaufte Mutation gilt als doppelt so ansteckend wie das Ursprungsvirus und ist ein weiterer Grund für die steigenden Zahlen.

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„Letztes Jahr hatten die Menschen Angst zu sterben“

Eine entscheidende Rolle spielen außerdem das Verhalten der Bevölkerung sowie die wirtschaftliche Lage. Nach dem monatelangen Hin und Her zwischen harten und milderen Auflagen hat sich im Land eine Lockdown-Müdigkeit breitgemacht. Gleichzeitig wiegt die hohe Impfquote die Chileninnen und Chilenen in einem falschen Sicherheitsgefühl. "Letztes Jahr waren die Eindämmungsmaßnahmen effektiver, weil die Menschen Angst hatten zu sterben", bestätigt Dr. Cesar Cortes, Notarzt am Universitätsklinikum in der Hauptstadt, der Nachrichtenagentur "Reuters". "Das ist jetzt nicht mehr so." Jetzt hätten viele mehr Angst ihre Arbeit zu verlieren.

Der gleichen Meinung ist auch Lidia Amarales, Gesundheitsexpertin der Universidad de Magallanes in Punta Arenas. Der ökonomische Druck habe viele Menschen dazu gebracht, das Haus entgegen den Anweisungen zu verlassen, erklärt die Forscherin der chilenischen Zeitung "La Tercera". Zudem haben längst nicht so viele Chileninnen und Chilenen die Möglichkeit Homeoffice zu machen, wie beispielsweise in Europa. Vergangene Woche kündigte Präsident Piñera daher weitere Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen an, die durch den Lockdown in Not geraten sind.

Auch der Jahreswechsel kommt für Chile zu einem ungünstigen Zeitpunkt: In Südamerika beginnt gerade der Winter – die Temperaturen sinken und man trifft sich lieber Zuhause als draußen. Genau wie im vergangenen Jahr, als das Land seine erste große Corona-Welle erlebt.

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