Die britische Stadt Bolton zeigt, was uns bei zu vielen Lockerungen erwarten könnte

Steht Deutschland vor einem "guten" Sommer, wie Komikerin Carolin Kebekus aktuell singt – oder drohen bald erneut steigende Inzidenzen? SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach mimt in dem Lied den Spielverderber, erinnert weiterhin an Abstandsregeln, Maskentragen und betont, wie wichtig auch die Zweitimpfung gegen das Coronavirus ist. 

Unbegründet sind diese Einwände nicht, wie neue Statistiken aus Großbritannien zeigen. In einigen Landesteilen sorgt die indische Corona-Variante B.1.617.2 erneut für steigende Inzidenzen. Betroffen sind demnach vor allem jüngere, weitgehend ungeimpfte Bevölkerungsschichten. Mit am stärksten verbreitet ist die Variante derzeit in Bolton, einer Stadt im Nordwesten Englands, die im Einzugsgebiet von Manchester liegt. Dort wurden zuletzt rund 450 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen registriert. In den vergangenen Wochen war die Inzidenz rasant nach oben geschnellt. Noch Ende April hatte sie um den Wert 50 gelegen.

Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in der Stadt Bedford in der Grafschaft Bedfordshire und Blackburn, ebenfalls im Nordwesten Englands gelegen.

„B.1.617.2 macht Sorgen“

Experten gehen davon aus, dass sich die indische Variante B.1.617.2 schneller ausbreitet als die bislang vorherrschende britische Corona-Mutante B.1.1.7. Sie steht auch im Verdacht, zu der schlimmen Pandemie-Lage in Indien beigetragen zu haben, wo die Variante vor einigen Monaten zuerst nachgewiesen worden war. Bei der Mutante unterscheiden Fachleute mehrere Untervarianten. B.1.617.2 ist eine von ihnen. 

"B.1.617.2 macht Sorgen, großteils geimpfte Jahrgänge sind weitgehend geschützt. Nicht so die Jüngeren", twitterte der Berliner Virologe Christian Drosten mit Blick auf die Statistiken aus Großbritannien.

Auch die Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation beobachtet die Ausbreitung. Man solle genau auf diese Variante schauen, sagte sie am Donnerstag in einer Anhörung im Parlamentarischen Begleitgremium Covid-19-Pandemie des Bundestags. Sie sehe eine Gratwanderung zwischen dem Impffortschritt und der Ausbreitung der Variante.

Wie verbreitet ist B.1.617.2. in Deutschland?

In Deutschland liegt der B.1.617.2-Anteil nach jüngsten Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) bei 2,2 Prozent. Das RKI spricht von einem langsamen, aber kontinuierlichen Anstieg. In absoluten Zahlen geht es noch um relativ geringe Werte: Für die 19. Kalenderwoche sind 40 Nachweise im Bericht ausgewiesen. Allerdings werden in Deutschland auch nicht alle positiven Proben auf die einzelnen Varianten hin untersucht. Vielmehr handelt es sich um eine Stichprobe.

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Angesichts des aktuell berichteten Anteils von zwei Prozent werde es bis zu fünf Wochen oder vielleicht auch länger dauern, bis die Variante auch in Deutschland anfange, die Fallzahlen wieder hoch zu bringen, schätzt Priesemann. Sie befürchtet, dass es bis dahin noch nicht genug Impfschutz gibt, um eine Belastung der Intensivstationen auszuschließen.

In Deutschland sind es vor allem jüngere Menschen, die noch keinen oder keinen vollständigen Impfschutz gegen Covid-19 haben. Zwar erkranken sie statistisch gesehen deutlich seltener schwer am Coronavirus als Ältere und Vorerkrankte. Sollte sich das Virus aber besonders stark in der jungen Bevölkerung ausbreiten, könnte die Zahl der Krankenhauseinweisungen in der Summe dennoch erneut steigen. Einen entscheidenden Unterschied zu bisherigen Corona-Wellen würde es nach Ansicht von Experten in einem solchen Szenario aber geben: Die Sterblichkeit dürfte deutlich niedriger liegen, da die meisten Älteren gegen das Virus geimpft sind.

Fokus auf Zweitimpfungen

Der Virologe Christian Drosten wies am Dienstag im "Coronavirus-Update" (NDR-Info) darauf hin, dass offenbar "gerade die erste Impfung gegen dieses Virus noch nicht so viel hilft, so dass man jetzt schnell vervollständigen muss". Das bedeutet, dass es wichtig ist, dass Menschen auch die zweite Dosis erhalten. Generell sieht Drosten bei den ersten Daten über die Variante aber noch viele Unwägbarkeiten.

Corona-Lage rund um die Welt: Das Virus ist immer noch überall

Unabhängige Experten in Großbritannien riefen unterdessen dringend zum Handeln auf. Die Ausbreitung von B.1.617.2 dort erfordere eine sofortige Einleitung von Maßnahmen, um die Fallzahlen zu senken, teilte die als "Independent Sage" bekannte Gruppe mit. Sie ist nicht identisch mit dem nur als "Sage" (Scientific Advisory Group for Emergencies) bezeichneten offiziellen Expertengremium der Regierung. Schätzungen zufolge sei die indische Variante in Teilen des Landes bereits vorherrschend, hieß es in der Mitteilung von "Independent Sage" am Mittwoch.

Großbritannien ist Virusvariantengebiet

Es sei wahrscheinlich zu spät, um zu verhindern, dass sie sich im ganzen Land als dominant durchsetze. Daher empfehlen die Experten Maßnahmen wie zusätzliche Unterstützung für Menschen mit geringen Einkommen bei der Selbstisolierung, bessere Belüftungsmaßnahmen in Schulen und eine Rückkehr der Maskenpflicht in allen weiterführenden Schulen. In Großbritannien wurden bislang rund 3400 Infektionen mit der Variante registriert. Wegen der Ausbreitung der Variante wird Großbritannien von der deutschen Bundesregierung seit Sonntag als Virusvariantengebiet eingestuft.

Mitte April hatte Großbritannien weitreichende Lockerungen der Corona-Regeln umgesetzt: Geschäfte dürfen seitdem wieder für Kunden öffnen, Restaurants und Kneipen ihre Gäste zumindest im Außenbereich empfangen. Auch Fitnessstudios und Schwimmbäder haben ihren Betrieb wieder aufgenommen.

Insgesamt ist die Zahl der Neuinfektionen trotz zuletzt wieder leicht steigender Tendenz landesweit auf einem niedrigen Niveau, was auch der vergleichsweise hohen Impfquote zuzuschreiben ist: Rund 35 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig gegen das Coronavirus geimpft, rund 56,9 Prozent haben mindestens eine Erstimpfung erhalten. Zum Vergleich: In Deutschland sind bislang 16,9 Prozent der Bevölkerung vollständig immunisiert. Der Anteil der Menschen, die mindestens eine Impfung bekommen haben, liegt bei 41,7 Prozent.

Vorherrschend bleibt in Deutschland laut RKI die zuerst in Großbritannien entdeckte Variante B.1.1.7, mit einem Anteil von 90 Prozent. Auch bei den Nachweisen der beiden weiteren als besorgniserregend eingestuften Mutanten (P.1/Brasilien und B.1.351/Südafrika) gab es im Vergleich zu früheren RKI-Berichten keine wesentlichen Veränderungen – sie bleiben auf niedrigem Niveau.

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