Zahnvorsorge könnte Milliarden Krankheitsfälle verhindern

Forscher fordern ein radikales Umdenken im Umgang mit Mund- und Zahnerkrankungen. Rund 3,5 Milliarden Menschen leiden demnach unter Karies oder Zahnfleischerkrankungen – weitgehend unbeachtet von der weltweiten Gesundheitsvorsorge und -politik. Gute Vorsorge hätte einen Großteil dieser Krankheiten verhindern können, sind sich die Experten sicher.

„Die Zahnmedizin ist in der Krise“, sagt Professor Richard Watt vom University College London (UCL), einer der Autoren einer Artikelserie zu diesen Themen im britischen Fachjournal „The Lancet“.

In hoch entwickelten Ländern stehe bei der modernen Zahnmedizin beispielsweise viel zu stark die Behandlung im Vordergrund, kritisieren er und zwölf weitere internationale Experten. Besser wäre es, sich auf die Vorbeugung zu konzentrieren. Die Wissenschaftler aus zehn Ländern, darunter auch Großbritannien und Deutschland, monieren zudem, dass sich die Zahnmedizin schon viel zu lange von der allgemeinen Gesundheitsvorsorge abgekoppelt habe.

Unbehandelte Karies – weltweites Problem

Die Folge: Während es etwa bei Karies von Kindern in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gab, ist Karies bei bleibenden Zähnen noch immer eines der größten Gesundheitsprobleme weltweit. Das betrifft auch Deutschland. Hierzulande hatten 2017 knapp 41 Prozent unbehandelte Karies an bleibenden Zähnen, dies zeigen Daten des Institute for Health Metrics and Evaluation der University of Washington.

Laut der Deutschen Studie für Mundgesundheit ist die Zahl der kariösen, fehlenden oder gefüllten Zähne in den vergangenen Jahrzehnten zwar deutlich zurückgegangen. Demnach weisen jedoch noch immer 11,2 Zähne der 35- bis 44-Jährigen eine Karieserfahrung auf (zum Vergleich: 1997 waren es 16,1 Zähne).

Auch Stefan Listl, Co-Autor der aktuellen Studie, sieht in Deutschland noch Handlungsbedarf. Zwar werde hier im weltweiten Vergleich mit am meisten für zahnmedizinische Behandlungen ausgegeben, sagt Listl, der an der Universitätsklinik in Heidelberg im Bereich Gesundheitsökonomie forscht. Viele Menschen litten aber weiterhin an vermeidbaren Folgen solcher Erkrankungen. Der dadurch entstehende Verlust an Produktivität betrage mehr als zwölf Milliarden Euro jährlich. „Es wird zu viel Wert auf Hightech gelegt statt auf Vorsorge.“

Auch sei es weiterhin so, dass Menschen aus niedrigeren Bildungsschichten deutlich öfter Zahnprobleme hätten. „Mit dem Versorgungsmodell hierzulande kommt man sehr weit, aber wie kann man die erreichen, die nie zum Zahnarzt gehen?“, fragt Listl. Vielen Menschen sei nicht bewusst, wie wichtig Zahn- und Mundhygiene sei.

Wie die Zuckerindustrie die WHO beeinflusste

Ebenfalls kritisch beurteilen die Wissenschaftler die Rolle der Zucker-, Lebensmittel- und Getränkeindustrie. Ihr Einfluss könne dazu führen, dass der Fokus auf kommerzielle Produkte wie Zahnpasta mit Fluor, Mundwasser oder zuckerfreien Kaugummi gelegt werde statt sich den tatsächlichen Ursachen etwa von Karies zu widmen. So steige der Konsum von Zucker, Hauptursache für die Zerstörung von Zähnen, gerade in weniger entwickelten Ländern rapide an.

Als konkretes Beispiel nennen die Forscher den Einfluss der Zuckerindustrie auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 2003 kam ein Expertenkomitee zum Schluss, dass zugesetzte Zucker weniger als zehn Prozent der täglich aufgenommenen Kalorien ausmachen sollten. Die weltweite Zuckerindustrie habe jedoch erfolgreich dagegen lobbyiert, sodass es die Empfehlung nicht in den veröffentlichten WHO-Report geschafft habe, schreiben die Autoren. Erst 2015 hat die Organisation schließlich offiziell diese Empfehlung ausgesprochen.

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