Spritzen setzen, Stomabeutel wechseln, keine Zeit zu reden – Alltag einer Altenpflegerin

Mit beiden Händen umklammert Ilias Vlachos* den Stomabeutel. Er ist randvoll und der Inhalt sucht sich bereits seinen Weg nach draußen. Hilflos steht der Mann im Wohnzimmer seiner Zwei-Zimmer-Wohnung im Hamburger Stadtteil Harburg. Es ist Dienstagmorgen, kurz nach 7 Uhr. Eva Berg* streift sich schnell ein Paar Einweghandschuhe über. „Das haben wir gleich“, sagt die 56-Jährige. Behutsam nimmt sie den Beutel ab, wirft ihn in eine Plastiktüte. Dann entfernt sie die Basisplatte und den durchgeweichten Hautschutz, tunkt ein Wattepad in eine Schale mit Wasser und reibt damit vorsichtig die Stuhlgangreste von seinem Bauch, während hinter ihr der Fernseher läuft. „Das sieht doch schon wieder ganz gut aus“, sagt sie beim Begutachten der Stomaanlage. Der 61-jährige Grieche hatte vor wenigen Monaten eine Darmoperation. Der künstliche Ausgang ist nur vorübergehend. Der Mann lebt allein. Einmal am Tag kommt ihm eine ambulante Pflegekraft zur Hilfe. 

3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig

Wie pflegebedürftig ein Mensch ist und welchen Pflegegrad er bekommt, entscheidet hierzulande bei gesetzlich Versicherten der Medizinische Dienst der Krankenkasse, kurz MDK. Die speziell ausgebildeten Pflegefachkräfte oder Ärzte kommen vorbei, nachdem ein Antrag auf Pflegeleistungen gestellt wurde und prüfen die Selbständigkeit der Betroffenen und wobei sie Hilfe benötigen. Laut der aktuellsten Studie vom Statistischen Bundesamt waren im Dezember 2017 in Deutschland 3,4 Millionen pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes. Davon wurden 2,59 Millionen zu Hause durch Angehörige versorgt, bei weiteren 830.000 Pflegebedürftigen erfolgte die Versorgung zusammen mit oder vollständig durch ambulante Pflegedienste.

So wie bei Antje Willems*. Die Niederländerin hat seit vielen Jahren Diabetes. Als Eva Berg gegen 7.30 Uhr an ihrer Tür klingelt, öffnet zunächst niemand. Erst, als sie ans Fenster klopft, geht kurz danach das Licht an. Für den Fall, dass Patienten tatsächlich nicht die Tür öffnen, gibt es ein Notfallbuch für jeden Kunden. Darin stehen Telefonnummern von Angehörigen und Ärzten. Von einigen ihrer Patienten hat sie einen Zweitschlüssel. Im schlimmsten Fall muss sie die Polizei rufen.

Kaum Zeit für Smalltalk

In diesem Fall jedoch ist der Grund für die Verspätung ein banaler: „Ich habe verschlafen“, sagt die 73-Jährige, die nur mit einem Oberteil und einem Schlüpfer bekleidet die Tür öffnet. Auch sie lebt allein. Ihre Verwandten wohnen alle in den Niederlanden. Bis vor kurzem hat sie sie noch regelmäßig besucht. Aber jetzt schafft sie das nicht mehr. Sie humpelt in die Küche. Auf dem Tisch liegt eine Frauenzeitschrift, daneben steht ein angebrochenes Fläschchen Nagellack. „Mir tun die Füße weh“ sagt sie. Eine Folgeerkrankung des Diabetes. Die Insulinspritze hat die Rentnerin schon bereit gelegt. Alles andere hat Eva Berg in ihrer Tasche immer dabei: Blutdruck-und Blutzuckermessgerät, Desinfektionsmittel, Fieberthermometer, Einmalspritzen, Verbandsmaterial, Überzieher für die Schuhe und Einweghandschuhe. Sie ist auf alles vorbereitet. Zunächst misst sie den Blutzucker, dann setzt sie die Spritze und wechselt die Stützstrümpfe. Jeder Handgriff sitzt. „Ist es kalt draußen?“, fragt die Frau. „Es geht“, antwortet Berg und setzt sich kurz. „Was gibt es heute zu essen?“ „Spaghetti“, lautet die Antwort. „So wie gestern. Wenn ich selber koche, ess‘ ich wie ein Hafenarbeiter. Aber ich muss aufpassen mit meinem Gewicht.“ Sie will noch klönen, doch die Pflegerin muss weiter.

Insgesamt hat die AWO Sozialstation in Harburg 80 Patienten, die im Schichtdienst betreut werden. Einige von ihnen werden mehrmals pro Tag aufgesucht. „Die Leute haben teilweise sehr großen Redebedarf“, sagt Berg. Doch für Smalltalk bleibt in der ambulanten Pflege kaum Zeit. Einer, der lieber nicht reden will, ist Walter Krämer*. Der 71-Jährige hat Zungenkrebs, kann nach einer Operation nicht mehr richtig atmen und hat einen Zugang zur Luftröhre, ein sogenanntes Tracheostoma. Wortlos folgt er Berg ins Badezimmer. Als sie ihm dort vorsichtig die Kanüle aus dem Hals zieht, um sie zu wechseln, dreht der kleine Mann mit dem grauen Haar seinen Kopf zur Seite und schaut mit ausdruckslosem Gesicht in den Spiegel. „Das macht ihm sehr zu schaffen. Anfangs hat er mir nicht einmal ‚Hallo‘ gesagt und mich auch nicht richtig angeschaut.“ Nachdem er die Prozedur stumm hat über sich ergehen lassen schlurft er mit hängendem Kopf zurück ins Wohnzimmer, greift nach der Fernbedienung, nippt an seiner Tasse Kaffee und zappt sich durch die Programme. Während die Altenpflegerin, wie bei allen Hausbesuchen, am Esstisch die Patienten-Dokumentation ausfüllt, unterhält sie sich mit der Ehefrau ihres Patienten. Über den Verlauf der Chemotherapie und von welchem Arzt sie das Spray gegen Mundtrockenheit erhalten hat. „Früher waren solche Leute im Heim oder wurden noch im Krankenhaus betreut“, sagt Eva Berg. Doch heute würden Leute schneller nach Hause geschickt.

Höhere Belastung, größerer Zeitdruck 

Die gelernte Kinderpflegerin machte 1981 noch eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Den Wunsch zu helfen hatte sie bereits im zarten Alter von 14 Jahren, als ihre Großmutter demenzkrank wurde und sie ihre Eltern bei der Pflege unterstützte. Bevor sie vor elf Jahren in die ambulante Pflege wechselte, arbeitete die examinierte Altenpflegerin in einem Heim für Demenzkranke. „Damals waren wir noch reichlich Kräfte und sind mit den Patienten sogar noch in den Urlaub gefahren. Das war schön, weil man sich wirklich in Ruhe um einen Patienten kümmern konnte. Später dann war sie die einzige „Geprüfte“ über drei Etagen. Die Belastung wurde höher, der Zeitdruck immer größer. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und wechselte in die ambulante Pflege. „Das ist auch nicht immer leicht, weil man hier anders als im Heim nicht so schnell Hilfe holen kann. Aber ich kann hier ziemlich selbstständig arbeiten und den Menschen eins zu eins begegnen.“ Ihre Touren plant sie in der Regel eine Woche im Voraus. Alles wird ins Handy eingetragen, das Navi berechnet die Fahrzeit. Auch Notizen finden sich darin, wie zum Beispiel „Post mitbringen“. 

Der Briefkasten von Karl Schwarz* ist heute leer. Mit dem Aufzug geht es in den sechsten Stock eines Mehrfamilienhauses. Der 78-Jährige ist depressiv, lässt sich seit dem Krebstod seiner Frau stark gehen. Als Berg gegen halb elf klingelt, ist er noch im Schlafanzug. Die weite Hose schlackert an seinen dünnen Beinchen. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch. Seine Haut ist fahl, seine Augen leer. Er klagt über Schwindel. „Sie müssen mehr trinken, so anderthalb Liter“, ermahnt ihn Berg. Er winkt ab: „Ach ich mach vielleicht vier bis fünf Schlucke.“ „Ich hole ihnen mal ein Glas Wasser“, sagt sie und geht in die Küche. „Scheiß Wasser“, murmelt er. Dafür trinkt er lieber etwas anderes. Auf dem Fußboden im Wohnzimmer steht eine halbvolle Kiste Bier. „Die lässt er sich liefern“, sagt Berg. Denn der Rentner kann kaum laufen, ist schon mehrfach schwer gestürzt. Den Rollator benutzt er allerdings auch kaum. „Damit komme ich nicht um die Ecken“, beschwert er sich. Die Altenpflegerin ermutigt ihn, auch mal einen Schritt vor die Tür zu gehen, damit er nicht nur zu Hause sitzt. „Sie haben Anspruch auf einen Alltagsbetreuer, der mal mit Ihnen raus geht.“ „Ich will nicht raus“, erwidert der Witwer. „Da habe ich nur Angst, noch mehr zu stolpern. Am wohlsten fühle ich mich im Bett.“ Für heute belässt es Berg damit, ihm das Bett aufzuschütteln. Dann geht es zum nächsten Termin.

„Es fehlen examinierte Fachkräfte“

In ihrem Alltag wird Berg mit viel Elend konfrontiert. Krankheit, Einsamkeit und vor allem Hilflosigkeit. Doch sie versucht, die Schicksale ihrer Patienten nicht zu nah an sich ran zu lassen. Nach Feierabend entspannt sie sich mit Yoga. Einmal die Woche singt sie im Kirchenchor. Ihre Tochter ist vor wenigen Monaten ausgezogen. Sie studiert Wirtschaftsingenieurwesen in Osnabrück. Eva Berg kann verstehen, dass junge Leute nicht mehr den Beruf des Altenpflegers erlernen wollen. „Die denken, da geht es nur darum, alten Menschen den Hintern abzuwischen und sie zu füttern.“ Dabei ist ihre Arbeit mittlerweile auch von sehr viel Bürokratie geprägt. Wenn sie mit ihrer Tour fertig ist telefoniert sie mit den Krankenkassen, den Sozialämtern, macht Pflegevisiten oder schreibt Dienstpläne.   

Gutes Personal ist in der Pflegebranche rar. „Es fehlen examinierte Fachkräfte“, sagt Berg. Ganz groß ist auch der Mangel an männlichem Pflegepersonal. Die Mehrzahl der Beschäftigten in der ambulanten Pflege ist weiblich, 2017 waren es laut Statistischem Bundesamt rund 86 Prozent. Das ist vor allem ein Problem, wenn Menschen sich kaum noch bewegen können und für die Körperpflege angehoben werden müssen, wenn aber kein Lifter vorhanden ist. Da ist auch bei richtiger Technik eine starke Hand gefragt.

Bis zu 200.000 Pflegekräfte fehlen

Der Notstand in der Pflege ist groß. Experten schätzen, dass in den nächsten 15 Jahren in Deutschland 100.000 bis 200.000 Pflegekräfte fehlen werden. Zudem gehört die Altenpflege zu den zehn Berufsgattungen mit Engpässen, in denen die Zahl älterer Beschäftigter am höchsten ist und damit auch der künftige Ersatzbedarf. Laut Bundeswirtschaftsministerium waren beispielsweise im Juni 2018 gemeldete Stellenangebote für Altenpflegefachkräfte im Schnitt 175 Tage vakant – das sind 68 Tage mehr als die Vakanzzeit über alle Berufe.

Um den drohenden Fachkräftemangel in der Pflege zu bekämpfen, hat die Bundesregierung Ende Januar die „Ausbildungsoffensive Pflege“ gestartet. Sowohl die Zahl der Auszubildenden als auch die der Ausbildungsstätten sollen bis 2023 um zehn Prozent steigen. Und auch das Gehalt soll attraktiver werden. Gesundheitsminister Jens Spahn forderte jüngst für die Beschäftigten künftig Tarifverträge. Gefragt, was ein Pfleger nach der Ausbildung seiner Ansicht nach verdienen sollte, antwortete er, 2500 bis 3000 Euro sollten möglich sein. Tatsächlich verdienen nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Fachkräfte in der Altenpflege im Durchschnitt 2612 Euro. Besonders gravierend sind die regionalen Unterschiede: Im Jahr 2016 schwankte das Bruttoeinkommen einer Vollzeit-Fachkraft in der Altenpflege zwischen 2937 Euro in Baden-Württemberg und 1985 Euro in Sachsen-Anhalt.  

In Hamburg warten heute noch sechs weitere Hausbesuche auf Eva Berg. Eine krebskranke Frau, die nach einer Gallenoperation vorübergehend wieder bei ihrer Mutter wohnt und bei der die Drainage gewechselt werden muss. Zwei Ehepaare, bei denen jeweils beide Partner medizinisch versorgt und gewaschen werden müssen. Eine ältere Dame in einer betreuten Wohnanlage, die regelmäßig ihre Augentropfen benötigt, eine krebskranke Stomapatientin sowie ein alleinstehender Mann, der sich nicht mehr ohne Hilfe waschen kann. Gegen Mittag fährt sie mit dem Dienstwagen zurück zur Sozialstation. Doch damit ist ihr Arbeitstag noch nicht zu Ende „Jetzt kommt der Bürokram“, sagt sie und setzt eine Kanne Kaffee auf.

*Namen wurden geändert

Quellen: Statistisches Bundesamt/Institut für Forschung und Arbeit/Bundesministerium für Wirtschaft und Energie/Bundesministerium für Gesundheit


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