Ihre Familie glaubt Verschwörungstheorien? Expertinnen erklären, was Sie tun sollten

Sänger Xavier Naidoo will laut eigener Aussage Schluss machen mit den Verschwörungstheorien und abstrusen Thesen, die er in den vergangenen Jahren vertreten hat. Extrempositionen kennen viele gerade seit Corona auch im eigenen Umfeld. Wie Sie mit Verschwörungsanhängern umgehen und sich annähern können.

Immer wieder sind wir während der Corona-Pandemie mit extremen Meinungen konfrontiert. Teilweise spalten sie Familien oder lassen Freundschaften brechen. Wer sich einmal festgelegt hat, bleibt meist bei seiner Position. Das ist ganz natürlich. Es geht hierbei um Konsistenz. Das heißt: Unser Gehirn möchte nicht ständig hin- und herschalten, weil es damit überfordert wäre. Dennoch lohnt es sich, mit den Menschen, die einem wichtig sind, ins Gespräch zu kommen.

Dass ein Umdenken von Verschwörungstheorien weg möglich ist, zeigt gerade das Beispiel des Sängers Xavier Naidoo. Er war mit sogenannten Querdenkern wie Attila Hildmann in eine Blase abgedriftet, verbreitete Mythen aus der QAnon-Ideologie. Nun spricht Naidoo in einem Video darüber, wie wichtig es sei, sich selbst zu reflektieren und gesteht ein: „Ich habe erkannt, auf welchen Irrwegen ich mich teilweise befunden habe.“

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Sinneswandel bei Xavier Naidoo?

Ihm sei bewusst geworden, dass er seine Familie, seine Freunde, seine Fans und viele Menschen mit verstörenden Äußerungen irritiert und provoziert habe. Als einen großen Denkanstoß nennt der Sänger den Krieg in der Ukraine. Wie dauerhaft sein Sinneswandel angesichts seiner extremistischen Vergangenheit ist, bleibt abzuwarten.

Wer unabhängig davon mit Freunden und Familienmitgliedern über Querdenker-Thesen, Impfmythen oder Weltherrschaftsideen sprechen möchte, für den haben eine Sozialpsychologin und eine Kommunikationsexpertin grundlegende Tipps. Ganz entscheidend ist: Verständnis zu haben, bedeutet nicht zwangsläufig, derselben Meinung zu sein.

1. Fragen stellen, um zum Nachdenken anzuregen

Statt Verschwörungstheorien „einen Blödsinn zu nennen, kann ich dem Gegenüber Fragen stellen“, empfiehlt Pia Lamberty im Gespräch mit FOCUS Online. Wenn es da etwa diesen geheimen Plan zur Neuordnung der Weltherrschaft geben soll: Von wem soll der denn ausgehen? Und wie wollen die Macher ihn konkret umsetzen? „Hintergrund ist, dass ich zum Weiterdenken anregen möchte“, erklärt die Psychologin.

Über die Expertin

Pia Lamberty ist Geschäftsführerin des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) in Berlin. Sie forscht zu Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Desinformation. 2020 veröffentlichte sie gemeinsam mit der Netzaktivistin Katharina Nocun das Buch „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“.

Genauso argumentiert die Kommunikations-Trainerin Andrea Hartmann-Piraudeau: „Selbst, wenn mir eine Position komisch vorkommt, kann ich mich bremsen und innehalten.“ Statt Studien zu zitieren helfe es oft, direkte und indirekte Fragen zu stellen: „Corona gibt es gar nicht – klang das eben wirklich ernst gemeint? Oder war das mehr flapsig daher gesagt? Wenn Ersteres: Gab es diese Überzeugung schon immer? Oder hat sich das entwickelt?“

2. Nachhaken, um die Position des Gegenübers zu begreifen

Um sich dem anderen anzunähern, ist es entscheidend, mit dem Fragen nicht aufzuhören. „Nachhaken hilft, Verständnis zu entwickeln, auch wenn man selbst ganz anders denkt“, empfiehlt Hartmann-Piraudeau. Als Beispiele nennt sie den Solo-Selbstständigen, der in der Corona-Pandemie besonders in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht war. Oder den Gastwirt, der Insolvenz anmelden musste. „Wenn solche Leute die Corona-Maßnahmen übertrieben nennen, verstehen wir die Sorgen und können auch Verständnis entwickeln.“ Das führt uns zum nächsten Schritt.

Über die Expertin

Andrea Hartmann-Piraudeau ist Gründerin und Geschäftsführerin von Consensus, einem Unternehmen für Konfliktklärung und Dialog. Als Mediatorin begleitet sie Menschen und Organisationen bei der Klärung ihrer Konflikte, außerdem bildet sie Mediatoren und Mentorinnen aus dem Consensus Campus aus.

3. Bedürfnisse verstehen, die hinter Verschwörungstheorien liegen

Konfliktgespräche laufen oft sehr einseitig, sagt die Krisenexpertin. „Die Beteiligten kommunizieren ausschließlich auf der Ebene der Positionen. Dabei sind nicht die der Knackpunkt, sondern die dahinterliegenden Interessen und Bedürfnisse.“

Das heißt es hilft, wenn wir nicht nur sehen, was der andere will, sondern auch, warum er es will. Hartmann-Piraudeau beschreibt: „Wenn Menschen das Gefühl haben, gesehen und ernst genommen zu werden, ist das die halbe Miete.“ Die Beteiligten könnten sich dann gut austauschen, auch wenn sie nicht einer Meinung seien.

4. Wertschätzen im Austausch

Hartmann-Piraudeau sieht auch beispielsweise für Impfskeptiker und Impfbefürworter einen Weg, um ins Gespräch zu kommen: „Indem sie sich klarmachen, dass Konsistenz ein Werkzeug ist, das Sicherheit gibt. Aber keine Wahrheit. Die Wahrheit könnte zum Beispiel so aussehen: Der Impfbefürworter gibt zu, dass ihm mulmig zumute war, als er die Spritze bekam.“

Aber auch der Impfskeptiker könne zu einem konstruktiven Austausch beitragen. Die Mediatorin ergänzt: „Generell sollten wir dem anderen zugutehalten, dass er sich seine eigenen Gedanken gemacht hat und auf Grundlage dieser Gedanken zu einer eigenen Entscheidung gekommen ist. Diese Art von Wertschätzung ist zentral.“ Dadurch hören wir auf, zu verurteilen. Wir schauen über den berühmten Tellerrand.

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  • 5. Die eigene Position klarmachen

    Für den Austausch ist es gleichzeitig hilfreich, dem Gegenüber die eigene Position zu erklären. Denn andere Menschen zu verstehen, müsse nicht heißen, mit ihren Positionen einverstanden zu sein, wie die Mediatorin ausführt: „Ich kann sogar entschieden gegen ihre Positionen sein und trotzdem eskaliert es nicht zwischen uns. So kann ich etwa sagen: Für mich persönlich geht Infektionsschutz vor. Das klingt ganz anders als: Du bist unverantwortlich. Oder: Was du da sagst, ist völlig verrückt.“

    Denn das provoziere nur die nächste Gegenrede. Das Schwarze würde dann immer schwärzer und das Weiße immer weißer.

    Ergebnis: Ein gutes Gespräch oder Agree to disagree

    Im Idealfall führt der Austausch der Positionen zumindest zu einem guten Gespräch. Vertreter extremer Ansichten können sich emotional näherkommen. Je nachdem, wie viel jemandem an der Freundin oder dem Familienmitglied liegt, können Sie mehr oder weniger Energie hierein investieren.

    Im Zweifel kann – wenn es nicht gerade die Partnerschaft betrifft – auch das Konzept „Agree to disagree“ eine Lösung sein, um die Beziehung aufrecht zu erhalten. Das meint die Übereinkunft, dass man bei manchen Themen eben nicht auf einen Nenner kommt.

    Psychologin Lamberty ist jedoch zuversichtlich, dass ein Großteil der Verschwörungsideologen durch Gespräche überzeugt oder zumindest zum Nachdenken gebracht werden kann. Ihr Rat: „Im Bekanntenkreis würde ich mir Zeit und Kraft für solche Gespräche nehmen.“

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    Naidoo: „Ich distanziere mich von allen Extremen“

    Wie genau der Prozess bei Xavier Naidoo lief, ist nicht bekannt. Doch er erzählt in seinem Video: „Ich war von Verschwörungserzählungen geblendet und habe sie nicht genug hinterfragt, habe mich zum Teil instrumentalisieren lassen. Bei der Wahrheitssuche war ich wie in einer Blase und habe mich manchmal vom Bezug zur Realität entfernt. Das habe ich leider jetzt erst erkannt.“

    Naidoo gibt sich reuig: „Mir ist es deshalb wichtig, euch zu sagen, dass ich mich von allen Extremen distanziere, insbesondere und vor allem auch von rechten und verschwörerischen Gruppen.“

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