Streifzug durch Hamburg: Der Kiez leert sich – doch einige Unbelehrbare gibt es noch

Gegen 18.30 Uhr am Montagabend geht es für die H&M-Verkäuferinnen in der Hamburger Europa-Passage auf den Feierabend zu. Ein Feierabend, von dem niemand weiß, wie lange er dauern wird. Soeben kam die Meldung, dass in Deutschland ab dem nächsten Tag nur noch die wichtigsten Geschäfte öffnen dürfen. Von ihrem Unternehmen haben sie noch keine offiziellen Informationen erhalten, sagt eine Verkäuferin: „Wir schauen schon die ganze Zeit nur aufs Handy.“

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Viel mehr gibt es auch nicht zu tun, es kommen kaum noch Kunden in die Filiale. Während andere von zu Hause aus arbeiten, müssen die Verkäuferinnen der Bekleidungskette zur Arbeit erscheinen. Der direkte Kundenkontakt lässt sich für sie nicht vermeiden. „Wir versuchen, Distanz zu halten“, sagt eine Angestellte. Sie trägt Plastikhandschuhe.

Nicht nur für die Angestellten im Einzelhandel ist seit dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie nichts mehr, wie es war. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Infizierten jeden Tag sprunghaft an. Um das Virus einigermaßen einzudämmen, raten Gesundheitsexperten dringend dazu, die sozialen Kontakte radikal zurückzufahren und Menschenansammlungen zu meiden. Bund, Länder und Städte haben Maßnahmen ergriffen, um das zu erreichen: Sie verbieten Veranstaltungen, schließen Bars, Clubs, Kneipen und Geschäfte, Restaurants dürfen nur noch bis 18 Uhr geöffnet haben.

Hamburg: So leer wie sonst nur bei WM-Spielen

Die Auswirkungen dieser Anordnungen sind im Stadtbild unübersehbar. In der Europa-Passage, einem Einkaufszentrum in der Hamburger Innenstadt, drängen sich normalerweise die Menschen. Tagsüber kommen die Touristen, nach Feierabend noch einmal ein ganzer Schub Menschen aus den umliegenden Büros. In Zeiten des Coronavirus sind die Etagen wie leergefegt, nur vereinzelte Kunden schlendern durch die Geschäfte, in denen sich die Verkäufer weitestgehend langweilen. So sieht Hamburg sonst höchstens aus, wenn das deutsche Fußball-Team ein wichtiges Spiel bei der WM hat.

Nach Feierabend drängen sich die Menschen normalerweise in der Europa-Passage. Nun kommen kaum Kunden in das Einkaufszentrum.

Liegt das nun an den Maßnahmen der Regierung oder an der Eigenverantwortung der Menschen, die vernünftig sind und zu Hause bleiben? Wer mit denen spricht, die trotz aller Appelle noch unterwegs sind, kommt zu dem Schluss, dass eher ersteres der Fall ist. Vor der malerischen Kulisse am Jungfernstieg nutzen drei junge Männer die Ruhe, um mit Blick auf die Alster einen Kaffee zu trinken. Neben ihnen stehen Tüten aus der nahe gelegenen Einkaufsstraße. Sorgen um das Coronavirus machen sie sich nicht. „Ich habe keine Angst“, sagt einer von ihnen: „Uns betrifft das ja nicht, ich bin nicht in der Risikogruppe.“ Zu Hause habe er „quasi Hausverbot“, weil seine Mutter wegen einer Vorerkrankung gefährdet sei. 

Antonia und Sophie, beide 17, müssten eigentlich gute Laune haben: Ihre Ferien wurden durch die Schulschließungen kurzerhand verlängert. Trotzdem schauen beide etwas missmutig drein, als sie in einem Fast-Food-Restaurant einen Burger essen. Ihr letztes Jahr vor dem Abitur wollten sie noch einmal voll genießen, aber was soll man tun, wenn alles dicht ist? „Für uns ist das scheiße“, erklärt Sophie. „Uns werden viele Chancen genommen.“ Die Reise ihrer Freundin nach Israel wurde gestrichen, andere Schülerinnen müssten frühzeitig aus dem Auslandsjahr zurückkommen.

So wirklich können sie noch nicht fassen, was um sie herum passiert – aber wer kann das in Deutschland in diesen Tagen schon. „Es ist wie ein Traum“, sagt Sophie. „Es dauert, bis das alles in den Kopf kommt.“ Trotzdem wissen beide, wie wichtig es ist, in dieser Lage auch auf das eigene Vergnügen zu verzichten. „Es geht darum, dass sich nicht noch mehr Menschen anstecken“, weiß Antonia. „Wir müssen es besser machen als Italien.“

So wenig Kontakte wie möglich – noch nicht alle haben es verstanden

Das scheint bei weitem nicht allen klar zu sein. Ganz offensichtlich gibt es immer noch viele Menschen, die die Warnungen der Mediziner nicht ernstnehmen – oder sich darauf verlassen, dass die anderen sie schon umsetzen werden. Als am Wochenende die Sonne – zugegeben in letzter Zeit kein oft gesehener Gast in Hamburg – schien, waren die Einkaufsmeilen in der Innenstadt und die Spazierwege an Alster und Elbe gut gefüllt. Auf einem Spielplatz auf St. Pauli schlürfen die Mütter ihren Cappuccino, die Kinder vom Krabbelalter bis zur späten Grundschule toben auf den Geräten oder im noch leicht feuchten Sandkasten. An der Eisdiele gegenüber bildet sich eine lange Schlange.

Spaziergänger am Elbstrand in Hamburg

Solange die Bevölkerung nicht von sich aus die Vorsichtsmaßnahmen befolgt, wird sich der Staat gezwungen sehen, immer weiter durchzugreifen. Die vergangenen Tage haben gezeigt, wie schnell das passieren kann. Besonders für Eltern ist die aktuelle Situation eine Herausforderung – ihre Kinder werden nicht mehr in Schule oder Kita beschäftigt. Auch ist aus medizinischer Sicht nichts gegen Spaziergänge an der frischen Luft einzuwenden. Wichtig ist allerdings, dass man auch dabei den Mitmenschen nicht zu nahe kommt. Zwei Meter Abstand empfehlen Virologen.

Die Restaurants trifft es besonders schwer

Keine zwei Meter, aber immerhin 1,5 Meter weit haben die Betreiber im Restaurant „Lokmam“ ihre Tische auseinandergeschoben. Auch das ist eine behördliche Vorgabe. An diesem Abend darf das Lokal im beliebten Schanzenviertel noch geöffnet haben, in Zukunft müssen Restaurants ab 18 Uhr schließen. Da könne man den Laden auch gleich zumachen, sagt Nicky Rexhaj, tagsüber kämen ohnehin kaum Gäste. Durch den weiteren Abstand zwischen den Tischen hat sich das Platzkontingent ohnehin reduziert, dennoch ist das Restaurant beinahe menschenleer, wie auch alle anderen in dem Hamburger Bar- und Kneipenviertel: Selbst in den angesagtesten Lokalen wäre es kein Problem, einen Tisch zu bekommen. Wenn man denn wollte.

Angst vor Corona-Infektion

Das Virus lässt sich kaum noch eindämmen, sagen Experten. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr bei uns?

Die Zahl der Gäste sei um 80 Prozent zurückgegangen, sagt Nicky Rexhaj vom „Lokmam“: „Seit drei, vier Tagen haben die Leute Angst.“ Und auch er selbst macht sich seine Gedanken. Bei ständigem direkten Kundenkontakt besteht ein erhöhtes Ansteckungsrisiko. „Wenn mir ein infizierter Gast Geld gibt und ich mir dann ins Gesicht fasse, ist es vorbei“, sagt er. Sieben bis acht Flaschen Desinfektionsmittel verbrauchen er und seine Kollegen pro Tag – und hoffen, dass es hilft.

Keine Ablenkung mehr: Die Reeperbahn macht weitestgehend dicht

Es wird später, langsam kommt die Zeit, bei der die Reeperbahn zum Leben erwacht. „Leben“ aber ist zu viel gesagt – der berühmte Hamburger Kiez wirkt wie ausgestorben. Die Kneipen und Bars dürfen ohnehin nicht mehr öffnen, die Veranstaltungen sind abgesagt. Auf der Großen Freiheit, wo sich bei Rockkonzerten die Schlange am Einlass manchmal über die gesamte Länge der Straße zieht, ist buchstäblich keine Menschenseele. Keine Türsteher versuchen, Passanten in windige Etablissements zu locken. Wen auch? Und wohin?

Der „Goldene Handschuh“ auf dem Kiez: Auch für die berühmte Kneipe geht es vorerst nicht weiter.

Und so trifft es auch die Institutionen auf dem Kiez, die berühmt-berüchtigten Kneipen, die sich sonst von nichts so schnell unterkriegen lassen: zum Beispiel den „Goldenen Handschuh“ oder den „Elbschlosskeller“. Der „Elbschlosskeller“ ist eigentlich rund um die Uhr geöffnet – der Wirt musste sogar extra ein neues Schloss kaufen, weil er bisher keins gebraucht hatte. 

Vielleicht ist dieser Aspekt das psychologisch Schwierigste an der ganzen Krise: Die Orte, an denen man in privaten oder gesellschaftlichen Nöten sonst Ablenkung und Trost sucht, fallen weg. Für einige ist es die Kneipe, für manche die Kirche, für andere die Eisdiele. Wie lange noch? Das weiß niemand. Nur so viel: Es hat gerade erst begonnen. 

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