Wie eine stern-Leserin herausfand, unter welcher seltenen Krankheit sie leidet

Als Martina Weihe im März dieses Jahres in einem Reisebus auf Mallorca die Beine wegsackten und sie auf den Boden fiel, erschien der Sturz zunächst wie ein Malheur – eine Ungeschicklichkeit, in einer Reihe von vielen. Doch schon bald erwies er sich als wichtiges Puzzleteil, das half, die rätselhafte Leidensgeschichte der 59-Jährigen zu klären. Zunächst allerdings musste sie in eine Klinik nach Palma, bekam einen Gips und flog mit Unterstützung der „Gelben Engel“ zurück nach Deutschland. Befund: Meniskus- und Kreuzbandriss.

Derart lädiert saß Martina Weihe einige Tage später im Sprechzimmer von Professor Jörg Ohnsorge in Hamburg. Bereits vor ihrem Mallorca-Urlaub hatte sie einen Termin bei dem Orthopäden und Wirbelsäulenspezialisten ausgemacht, von dem sie sich endlich Heilung versprach. Seit Jahren litt sie unter Rückenschmerzen und fiel zudem – wie im Urlaub – immer wieder hin, ohne ersichtliche Ursache.

Parallelen zu einem Fall in der Rubrik „Die Diagnose“

Jörg Ohnsorge hatte im Juni 2017 in der stern-Rubrik „Die Diagnose“ über einen solchen Fall berichtet, die Parallelen waren erstaunlich. „Als ich das las, habe ich gedacht: Das bin ja ich!“, sagt Martina Weihe. „Ich habe genau das Gleiche, dieselben Symptome.“

Dieser Bericht führte Dutzende Patienten auf die richtige Spur

Der Fall, der Martina Weihe auf die richtige Spur gebracht hat, erscheint diese Woche in dem Buch: „Die Diagnose – neue Fälle“ und ist einer von 80 Krankenberichten aus der gleichnamigen Rubrik im stern. Darin schildern Ärzte, wie sie mit bisweilen detektivischem Gespür, mit Erfahrung und Teamarbeit Patienten, die unter rätselhaften Symptomen leiden, helfen konnten.

Nicht selten beginnt Heilen mit Zuhören, und auch Jörg Ohnsorge fragte Martina Weihe bei ihrem ersten Treffen ausführlich nach ihrer Vorgeschichte. Sie erzählte ihm, dass ihr erstmals im Jahr 2011 extrem starke, stechende Schmerzen in den Rücken geschossen seien und bis in die Beine zogen. Sie suchte mehrere Orthopäden auf, es wurden Röntgen-, Computertomografie- und Kernspinaufnahmen angefertigt, Schmerzmittel, Spritzen und Physiotherapie verschrieben; um ihre Rückenmuskulatur zu kräftigen, ging Weihe zum Schwimmen, und sie machte Wassergymnastik. 2013 schließlich operierten Ärzte sie an der Bandscheibe, und zunächst besserten sich die Beschwerden. Es folgten Gymnastik und Gerätetraining, Weihe wollte in Bewegung bleiben, wann immer möglich, lief sie zu Fuß.

Die Kernspinaufnahme zeigt die Einengung des Nervenkanals, der innerhalb der Wirbelsäule verläuft. Fachbegriff: Spinalkanalstenose

Ein Jahr nach der OP jedoch kehrten die Rückenschmerzen zurück, so stark, dass sie es keine 50 Meter mehr schaffte. Martina Weihe trainierte eisern weiter ihre Muskulatur in einem spezialisierten Zentrum, doch auch das brachte kaum Linderung.

Dann plötzlich begannen ihre Beine und Füße wie aus dem Nichts ihren Dienst zu versagen, wieder und wieder. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und stürzte: beim Treppensteigen, das ihr sowieso wegen der Schmerzen schwerfiel, auf dem Bürgersteig, zu Hause. Sie schlug sich die Hände auf, schürfte sich die Knie, stieß sich den Kopf und hatte einmal sogar ein blaues Auge. „Ich hatte dann keine Kontrolle mehr über meine Beine, sie waren plötzlich instabil“, sagt sie.

Blitzartige Ausfälle der Nervenleitung

Jörg Ohnsorge hörte seiner Patientin lange zu, fragte immer wieder detailliert nach, sah sich die Röntgen-, CT- und Kernspinaufnahmen an. Am Ende kam er zu dem Schluss: „Sie haben recht. Sie leiden an derselben Krankheit wie die Patientin, deren Fall Sie im stern gelesen haben. Sie haben eine ausgeprägte Spinalkanalstenose.“

Anika Geisler: „Die Diagnose – neue Fälle“, Penguin Verlag, 256 Seiten, 10 Euro

Der Arzt als Detektiv

Warum bricht ein Mathematikprofessor jeden Nachmittag um fünf Uhr zusammen? Wie kommt der Löffelstiel in den Magen eines Studenten? Und wieso wird einer Frau von Bratwurst und Kalbsbraten schwindelig? Diese Woche erscheint das Buch „Die Diagnose – neue Fälle“ mit rätselhaften Patientengeschichten und ihrer überraschenden Auflösung. Nach dem großen Erfolg des ersten Bandes hat die Herausgeberin, Medizinredakteurin und Ärztin Dr. Anika Geisler, 80 weitere Fälle aus der stern-Rubrik „Die Diagnose“ ausgewählt. Hier schildern Ärzte jede Woche ihre ungewöhnlichsten Fälle.

Er erklärte ihr das Leiden: Der Nervenkanal, der innerhalb der Wirbelsäule verläuft, war bei ihr im Bereich der Lendenwirbelsäule stark eingeengt. Teile der mit dem Alter porös gewordenen Bandscheiben drückten auf den Kanal sowie auf jene Bänder, die normalerweise die Wirbel stabil halten sollen. Auch sie hatten mit der Zeit ihre Elastizität verloren. Durch Verschleiß waren die kleinen Wirbelgelenke verdickt und knöcherne Höcker gewachsen, die ebenfalls auf die Nerven im Kanal drückten. Das verursachte die Schmerzen. Und: Wurden die Nerven besonders stark gequetscht, kam es zu blitzartigen Ausfällen der Nervenleitung, und die Muskeln in den Beinen erreichten für einen Moment keine Befehle. Geschah das beim Laufen, stolperte Weihe.

Zudem hatte sie eine in sich verdrehte Wirbelsäule und litt an einem Wirbelgleiten: Ein Wirbelkörper war verrutscht und bildete eine Stufe, die in den Nervenkanal hineinragte.

„Nicht jede Verengung im Wirbelkanal muss operiert werden. Wenn die Symptome gering sind, lässt sich mit Schmerzmitteln und Gymnastik viel erreichen“, sagt Ohnsorge. „Aber wenn die Beine versagen und man stürzt, führt oftmals kein Weg an einem Eingriff vorbei. Dann ist die Gefahr im Alltag höher als das OP-Risiko.“

Spinalkanalstenose – eine unterschätzte Krankheit

Laut einer Studie wurden in Deutschland allein im Jahr 2011 rund 56.000 Patienten aufgrund einer Spinalkanalstenose stationär behandelt. Ohnsorge hält sie für eine der am meisten unterschätzen Krankheiten. Oftmals sind ältere Menschen betroffen.

Seit Langem ist es Ohnsorge ein Anliegen, das Leiden bekannter zu machen. Bei Fortbildungen, die er für Hausärzte und Orthopäden hält, bedient er sich eines Tricks, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen: Er zeigt nacheinander verschiedene Röntgenbilder und lässt die Ärzte jeweils einige Minuten darüber diskutieren: zuerst den Unterarmbruch einer 61-jährigen Patientin. Danach den Schenkelhalsbruch einer 62-Jährigen. Dann die Schädelverletzung einer 63-Jährigen, die hingefallen ist. Und schließlich die Aufnahme einer 64-Jährigen mit Rückenschmerzen.

Am Ende fragt er: „Und, was haben diese vier Fälle gemeinsam?“ Und fährt nach einer Pause fort: „Es ist ein und dieselbe Patientin!“ Eine Frau, die immer wieder hingefallen war und deren Brüche behandelt worden waren – bei der aber kein Mediziner nachgeforscht hatte, warum die Ärmste so häufig gestürzt war. Letztlich litt sie an einer Spinalkanalstenose.

Ärzte könnten frühzeitiger auf die richtige Diagnose kommen – bevor die Knochen brechen. Besonders wichtig ist für Jörg Ohnsorge die Anamnese, die Krankengeschichte. „Die Konstellation der Beschwerden ist meist typisch“, sagt er. Dazu gehören: Rückenschmerzen, die sich bessern, wenn der Betroffene sich nach vorn beugt oder hinsetzt. Eine verminderte Gehstrecke, erschwertes Treppensteigen sowie häufig Empfindungsstörungen in den Beinen. Viele Betroffene beschreiben, so Ohnsorge, dass die Beine sich anfühlen, als seien sie „nicht die eigenen“, „besonders schwer“ oder „wie Watte“. „Und sie erzählen, dass sie immer wieder stolpern: über den Bordstein, die Gehwegplatte, die Teppichkante oder das Kinderspielzeug auf dem Fußboden.“

Im Mai operierte Jörg Ohnsorge Martina Weihe. Er entfernte von ihren Lendenwirbelkörpern jene Teile, die auf die Nerven drückten, weitete den Spinalkanal und stabilisierte die knöchernen Strukturen. Schon zwei Tage nach der OP merkte die Patientin: „Oh, wie geht es mir gut.“ Bald übte sie mit dem Physiotherapeuten das Laufen auf dem Klinikflur, dann im Krankenhausgarten.

Endlich Hilfe für stern-Leserin

Ohnsorges Fallschilderung im stern hatte für Martina Weihe den Durchbruch gebracht. Und auch andere ließ sie hoffen. Nach Erscheinen des Artikels meldeten sich unzählige Menschen per Brief, E-Mail oder Telefon in der Redaktion, um den Text noch einmal zugeschickt zu bekommen. Bei Jörg Ohnsorge werden bis heute Patienten vorstellig, die in der Krankengeschichte ihre eigenen Beschwerden wiedererkannt haben – bislang waren es etwa 200. „Sie kamen aus München, Rostock, Brandenburg, Bremen und Hannover – und bei fast allen bestätigte sich ihr Verdacht: Sie litten tatsächlich an einer Spinalkanalstenose“, bilanziert der Orthopäde.

Martina Weihe kann heute wieder ohne Beschwerden stehen und gehen. Und sie stolpert nicht mehr. „Der Artikel hat mir geholfen, meine Lebensqualität zurückzugewinnen“, sagt sie. „Das Schönste ist, dass ich wieder in meinem Garten arbeiten und unter die Haselnussbüsche kriechen und den Giersch ausgraben kann.“ Endlich ohne Schmerzen – und ohne Stürze.


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