Stammzellen: Ersatz aus dem eigenen Körper



Mit einer neuen Technik können Forscher aus dem Gewebe von Patienten Stammzellen gewinnen. Daraus lassen sich etwa Mini-Organe für die Krebstherapie züchten. Über die Möglichkeiten der Stammzelltherapie

Quelle der Erneuerung: In diesem Bioreaktor züchten Wissenschaftler Stammzellen, etwa für die Forschung an Mini-Organen

Gesundes Gewebe aus Stammzellen züchten. Das wäre für Forscher wie Mediziner wie ein Sechser im Lotto – und ein großer Gewinn für jeden von uns. Stammzellen verfügen über die besondere Fähigkeit, neue Nerven-, Blut,- Haut- und viele andere Zellen hervorzubringen. Damit eignen sie sich prinzipiell dazu, Gewebe zu ersetzen, das durch Krankheit oder Verletzung verloren gegangen ist oder geschädigt wurde.

Diese Hoffnung könnte tatsächlich eines Tages Realität werden. Überall auf der Welt arbeiten Wissenschaftler mit Hochdruck an Stammzell-Therapien für eine Vielzahl bislang unbehandelbarer Erkrankungen. Und sie erlangen dabei immer wieder kleine Etappen­siege. Einige wenige Behandlungen werden auch bereits angewandt. Die meisten Ansätze aber befinden sich noch in der Erforschung.

Hier wird erfolgreich mit Stammzellen geheilt

Nicht nur Zukunftsmusik: In diesen Bereichen gibt es bereits Therapien mit Stammzellen. 

Blutstammzellen werden transplantiert, um Krankheiten des Blutes zu behandeln oder um das Blutsystem nach einer Krebstherapie wieder aufzubauen. 

Für die Augen-Hornhaut ist seit Kurzem eine Stammzell-Therapie in Europa zugelassen. 

Bei großflächigen Verbrennungen kann in einigen Zentren in Deutschland neue Haut mithilfe von Hautstammzellen eingesetzt werden. 

Patienten-Gewebe liefert künstlich erzeugte Stammzellen

"Wir setzen aktuell große Hoffnungen auf künstlich hergestellte Stammzellen", sagt Professorin Heike Walles, Leiterin des Lehrstuhls für Tissue Engineering und Regenerative Medizin am Uniklinikum Würzburg. Für diese Stammzellen werden spezialisierte Gewebezellen von Erwachsenen umprogrammiert. So verfügen sie über zwei vorteilhafte Eigenschaften: Erstens können sie aus den Patienten selbst gewonnen werden, deren Immunsystem dann nach der Therapie keine Abstoßreaktionen zeigt. Zweitens haben die Zellen das Potenzial, alle Zelltypen des menschlichen Körpers zu bilden. Sie verhalten sich damit wie embryonale Stammzellen – für deren Gewinnung allerdings ein Embryo künstlich erzeugt und zerstört werden müsste. 

Die ethisch unbedenkliche Alternative entwickelte Professor Shinya Yamanaka aus Japan 2006. Er programmierte Hautzellen in Stammzellen um, die sich wie embryonale verhalten – und erhielt dafür nur sechs Jahre später den Nobelpreis. Schnell hatte die Fachwelt das Potenzial der Forschung erkannt. Bis dahin hatten es Wissenschaftler für ­unmöglich gehalten, dass sich spezia­­lisierte Gewebezellen in Stammzellen zurückentwickeln können. Heute beschäftigen sich Wissen­schaft­­ler weltweit mit den sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen, kurz IPS genannt.

Stammzellen können bei AMD, Parkinson und Krebs helfen

Am Forschungszentrum Riken in Kobe (Japan) zum Beispiel züchtet man daraus Netzhautzellen des Auges und testet diese bereits an Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration. Bei dieser Krankheit büßen die Betroffenen nach und nach ihre Sehkraft ein. An der Universität Kyoto (Japan) entwickelt man eine Stammzell-Therapie gegen Morbus Parkinson. Bei diesem Leiden sterben Hirnzellen ab, die den Botenstoff Dopamin bilden. Als Folge ergeben sich Bewegungsstörungen, die sich mit den Jahren verschlimmern. Die Forscher in Kyoto programmieren die IPS zu Dopamin bildenden Nervenzellen um. Schon in wenigen Monaten sollen diese an Betroffenen erprobt werden, um zu testen, ob diese neuartige Therapie sicher ist.

Auch als Ausgangsmaterial für komplexere Gebilde lassen sich die IPS nutzen, für sogenannte Organoide. "Diese Zellklumpen sehen nicht aus wie echte Organe, bilden aber deren Struktur ziemlich exakt nach", erklärt Heike Walles. Als Ersatzteillager taugen die Mini-Organe noch lange nicht.

Doch sie lassen sich zum Beispiel nutzen, um neue Medikamente zu erforschen. Ein Pionier auf diesem Gebiet ist der Niederländer Professor Hans Clevers von der Universität in Utrecht. Der Mediziner und Biologe entwickelte eine Technik, um Stammzellen unbegrenzt zu vermehren und daraus verlässlich Mini-Organe zu züchten.

Möglichkeit einer individuellen Krebstherapie

Unter anderem ist es ihm gelungen, aus dem Tumorgewebe von Darmkrebspatienten eine Organoid-Biobank herzustellen. Diese nutzt er nun, um Wirkstoffe gegen die Tumore zu testen. Prinzipiell ebnet Clevers’ neue Methode den Weg für individuelle Krebstherapien. Denn Tumore unterscheiden sich von Patient zu Patient. Eine Substanz, die bei dem einen wirkt, hat möglicherweise bei dem anderen keinerlei heilenden Effekt. Organoide könnten dazu beitragen, jeweils die richtige Behandlung zu finden.

Dieses Ziel verfolgt auch der Zellbio­loge Professor Martin Zenke – für Menschen, die an seltenen Formen von Blutkrebs mit speziellen Erbgutveränderungen (Mutationen) leiden. "Wir stellen aus den mutierten Zellen IPS her, differenzieren sie in Blutkrebs­zellen und testen an ihnen, welches Medikament passt", erklärt der Direktor des Instituts für Biomedizinische Technik und Zellbiologie am Universitätsklinikum Aachen. Auf diese Weise können Ärzte betroffenen Patienten eine wirksame Krebstherapie anbieten – sofern es eine gibt.

Diese Stammzell-Arten gibt es


Die Alleskönner

Ist die Eizelle befruchtet, ­beginnt sie sich zu teilen. Bis zum 8-Zell-Stadium gelten die Zellen als totipotent: Aus jeder einzelnen könnte noch ein Mensch entstehen. 

Die Multitalente

Nach fünf Tagen ist eine Keimblase entstanden. Aus den Zellen in ihrem Inneren züchten Forscher embryonale Stammzellen. Sie gelten als pluripotent, weil sie sämt­liche Zelltypen unseres Körpers hervorbringen können.

Die Spezialisten

Als Erwachsene haben wir nur noch sogenannte adulte Stammzellen mit der Fähigkeit, bestimmte Zelltypen und Gewebe zu erneuern. Sie werden als multipotent bezeichnet.

Lebensretter: Forscher reparieren Gendefekt in Hautstammzellen

Besser wäre es, das Übel direkt an der Wurzel zu packen und Erbgutfehler auszumerzen. Im vergangenen Jahr ­gelang zum Beispiel ein großer Erfolg, indem man die Stammzell- mit der Gentherapie kombinierte: Der plas­tische Chirurg und Experte für Brandverletzungen, Professor Marcus Lehnhardt, vom Berufsgenossenschaftlichen Uniklinikum Bergmannsheil in Bochum heilte einen achtjährigen Jungen von der Schmetterlingskrankheit. Bei dieser Erbkrankheit bildet die Haut ihr Stützsystem nicht richtig aus. Bereits bei kleinsten Berührungen entstehen Blasen. Platzen diese auf, kommt es je nach Schwere der Erkrankung zu großflächigen Wunden.

Als der Junge in die Bochumer Klinik eingeliefert wurde, war sein Zustand kritisch. "Mehr als 60 Prozent seiner Haut waren betroffen", berichtet Lehnhardt. Die Ärzte waren bereits kurz davor, palliative Maßnahmen einzuleiten – also nur noch das Leid ihres kleinen Patienten mit Medikamenten zu lindern. Sie dachten, er müsse sterben. Dann aber schafften es die Experten gemeinsam mit Ärzten aus Modena (Italien), aus einer Hautprobe ihres Patienten Hautstammzellen zu isolieren.

Die italienischen Wissenschaftler reparierten den Gendefekt in den Hautstammzellen mithilfe eines Virus, der sich in das Erbgut einbaut. Dabei wird der krankhafte Genabschnitt durch den intakten ersetzt. "Als wir sahen, dass das funktioniert, haben wir aus den reparierten Zellen neue Haut gezüchtet", erklärt Lehnhardt. Die Fachleute in Bochum transplantierten dem Jungen das neu entstandene Gewebe. Er wurde wieder gesund. Das Behandlungsergebnis übertraf alle Erwartungen. Lehnhardt: "Die neue Haut war weich und bildete kaum Narben."

Auch die Möglichkeiten der Stammzelltherapie sind begrenzt 

Spektakuläre Meldungen wie diese können jedoch auch den Eindruck vermitteln, Stammzellen seien ein Allheilmittel – noch dazu eines, das kurz vor dem Masseneinsatz steht. Beides stimmt nicht. Die Zahl der Kliniken, die verzweifelten Patienten fragwürdige Stammzell-Therapien anbieten, wächst dennoch weltweit.

Berechtigt sind die Hoffnungen in der Bochumer Uniklinik. Innerhalb der nächsten zwölf Monate möchte man dort Brandopfer nach folgendem Prinzip behandeln können: aus einer Hautprobe Stammzellen isolieren, daraus neue Haut züchten und diese dann transplantieren. "Das wäre ein Riesenschritt", sagt Lehnhardt. Und ein weiterer Etappensieg auf dem Weg zu einer Ära  ganz neuer, individueller Therapiemöglichkeiten.

Stammzell-Therapie: Vorsicht bei unseriösen Angeboten

Der Markt für Missbrauch von ungeprüften Stammzell-Therapien wächst. "Manche Anbieter be­haupten: Kommen Sie zu uns, wir nehmen Blut ab, schütteln zweimal, geben Ihnen die Zellen zurück, und dann hilft das gegen Alzheimer, Diabetes und Rückenleiden", sagt Professor Martin Zenke, Direktor des Instituts für Biomedizinische Technik und Zellbiologie am Uniklinikum Aachen.

Sicherheit und Wirksamkeit solch unseriöser Therapien wurden in den meisten Fällen nicht in Studien überprüft. Auch sind sie nicht offiziell zur ­Anwendung zugelassen. "Das Pro­­blem ist, dass der Bereich der Stammzell-Therapie bisher nicht ausreichend durch Regularien kon­trolliert wird", so Zenke.

Im Internet werden auch un­geprüfte Stammzell-Therapien ­­angeboten, die gegen Multiple Sklerose, Diabetes oder Morbus Parkinson helfen sollen. Unseriös sind vor allem Angebote, bei denen Mediziner adulte Stammzellen nicht dort einsetzen wollen, wo sie entnommen wurden. Denn ­­Blutstammzellen etwa können nur Zellen des Blutsystems bilden. 

Informieren Sie sich bei seriösen Institutionen über ein Angebot. Das sind das German Stem Cell Network, das Kompetenznetzwerk Stammzellforschung NRW und die International Society for Stem Cell Research.

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